Čapek sah voraus, dass eine technogene Gesellschaft ihre Umwelt zerstören würde, sagt die Münchner Philologin Svetlana Efimova

Svetlana Efimova ist Professorin der Slavistik in Deutschland und beweist in unserem Interview, dass sie Karel Čapek bis ins kleinste Detail gelesen hat. Sie hat viele ihrer Studenten an der Universität München für tschechische Literatur begeistert und sogar ihren 14-jährigen Neffen, der sonst ein Fan von Science-Fiction-Literatur ist, dazu gebracht, Der Krieg mit den Molchen zu lesen. In unserem Interview reflektiert sie, warum Čapek immer noch relevant ist und warum die tschechische Literatur in ihrer Breite und ihren globalen Errungenschaften für sie die europäische Literatur im wahrsten Sinne symbolisiert.

Sie haben kürzlich mit Ihrem Vergleich der Coronavirus-Pandemie mit Karel Čapeks Die weiße Krankheit Interesse geweckt. Wann und wo haben Sie sich für Karel Čapek interessiert?

Als ich in Moskau Slavistik und vergleichende Literaturwissenschaft studierte, gab es unter anderem einen Kurs zu den Austauschprozessen zwischen unterschiedlichen slavischen Literaturen, was mich sehr interessierte. Damals habe ich auch Bulgarisch gelernt. Es war also zunächst ein allgemeines Interesse für Osteuropa als Kulturraum und ich habe angefangen, tschechische Autoren zu lesen. Als ich Karel Čapek für mich entdeckte, war ich schnell in seine Werke verliebt. Neben seinen Theaterstücken mag ich insbesondere den Roman Der Krieg mit den Molchen (1936). Was mich an Čapek fasziniert, ist seine Fähigkeit, in sich einen promovierten Philosophen mit einem brillanten Journalisten zu verbinden. Seine Werke sind genauso tief und scharfsinnig wie unterhaltsam. Mein 14-jähriger Neffe war im vergangenen Sommer auch von Der Krieg mit den Molchen begeistert; er liest gerne Science-Fiction und zählt nun Čapek zu seinen Lieblingsautoren. Ein breites Publikum anzusprechen und auf einer enormen philosophischen Höhe zu bleiben, das gelingt nur wenigen. Nicht zufällig hat Čapek einen ganzen Roman – Ein gewöhnliches Leben (1934) – einem prinzipiell ,gewöhnlichenʻ Menschen und seiner Bedeutsamkeit gewidmet.

Haben Sie andere tschechische Lieblingsautoren?

Ich lese gerne Milan Kundera, mein Lieblingsroman von ihm heißt Die Unwissenheit (2000). Eigentlich wurde dieser Roman zuerst auf Französisch publiziert, denn Kundera lebt seit den 1970er Jahren in Frankreich und schreibt seit den 1990er Jahren auf Französisch. Das Thema ist aber zutiefst tschechisch: Die Hauptfiguren Irena und Josef, die vor zwanzig Jahren aus der Tschechoslowakei emigrierten, kehren nach Prag zurück. Was fühlen sie dabei, wie empfinden sie das Land und sich selbst? Erinnerung und Identitätsfragen sind Themen, die mich auch als Forscherin beschäftigen. Aus der ersten Hälfte des 20. Jh.s interessiert mich zum Beispiel das Werk von Jakub Deml. Er war ein komplizierter, widersprüchlicher Autor, dessen autobiographische Figuren ständig nach einer kulturellen, existenziellen Selbstdefinition suchen: „Jsem já Moravan? Jsem já Čech? Můj děděček narodil se v Opatově u České Třebové a byl Němec, neboť v Abstdorfu jsou samí Němci“ (Bin ich mährisch? Bin ich Tscheche? Mein Großvater wurde in Opatov bei Ceska Trebova geboren und er war Deutscher, denn in Abstdorf gibt es nur Deutsche). Aus der tschechischen Moderne lese ich gerne auch Richard Weiner, den man häufig mit Franz Kafka vergleicht. Weiner schrieb allerdings seine Gedichte und Prosa auf Tschechisch, auch wenn er lange in Paris lebte. Sie sehen, ich habe ein besonderes Interesse für Autorinnen und Autoren, die sich zwischen Kulturen, geografischen Räumen und Sprachen bewegen. 

Svetlana Efimova.

Ist es möglich, die Wahrnehmung der tschechischen Literatur zwischen russischen und deutschen Lesern zu vergleichen?

Ich bin nicht sicher, ob man so pauschal eine „russische“ und eine „deutsche“ Leserschaft vergleichen kann. Einerseits, gibt es einen gewissen tschechischen Kanon, der in den beiden Ländern besonders stark rezipiert wird: Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk und Karel Čapek, Bohumil Hrabal und Milan Kundera. Ansonsten erreichen viele Übersetzungen vor allem die intellektuellen Kreise. In Deutschland gibt es aber gerade erfreuliche Tendenzen im Hinblick auf die Gegenwartsliteratur: die tschechischen Kulturzentren organisieren interessante Lesungen, 2019 war Tschechien das Gastland der Leipziger Buchmesse. Eine wichtige Rolle kommt den Vermittlungsfiguren hinzu: Übersetzer*innen, Kritiker*innen, Forscher*innen. Ich freue mich darüber, dass an der Münchener Universität slavistische Seminare auch von Studierenden anderer Fächer besucht werden. Dafür haben wir ein Nebenfach mit dem Titel „Sprache. Literatur. Kultur“ als institutionellen Rahmen. Ich habe zum Beispiel erlebt, wie eine Studentin, die davor wenig über die tschechische Literatur wusste, sogar angefangen hat, Tschechisch zu lernen.

Was die Vergangenheit betrifft, gab es übrigens eine sehr gute Bohemistik in der Sowjetunion. Man kann es gerade am Beispiel von Karel Čapek zeigen. Stellen Sie sich vor, in den Jahren 1974–1977 erschien in Moskau eine Ausgabe seiner gesammelten Werke in sieben (!) Bänden: übersetzt, kommentiert, eingeleitet, illustriert. Und das alles in einer Auflage von 75 000 Exemplaren. Mehr noch, 1976 gab es auch einen Čapek-Band in der berühmten sowjetischen Reihe „Bibliothek der Weltliteratur“ – in einer Auflage von 303 000 Exemplaren. Diese Forschungstradition wurde bis in die 2000er Jahre fortgesetzt: So erschien 2005 auf Russisch ein Čapek-Band unter dem Titel „Briefe aus der Zukunft. Ein unbekannter Čapek“ mit einer Auswahl seiner Erzählungen und Essays, die sich um Weltanschauung, Politik und Geschichte drehen.

Čapek ist bekannt für seine originellen Wortspiele. Das Wort robota (der Frondienst) und der davon abgeleitete Roboter bedürfen für den slawischen Leser keiner Erklärung. Wir wissen sehr wohl, was eine gute Übersetzung zum Verständnis des Werkes beiträgt. Ist der deutsche Leser oder Zuschauer nicht benachteiligt?

Oh ja, Sie haben recht! Ein anderes Beispiel wäre der Name der Roboterfabrik: „Rossum’s Universal Robots“, R.U.R. Natürlich erkennen wir darin im Unterschied zum deutschen Publikum das Wort rozum (der Verstand). Deswegen gab es in der ersten deutschen Übersetzung von Otto Pick einen Versuch, den Titel einzudeutschen: „W.U.R.“ (Werstands Universal Robots).

Čapek selbst übersetzte, er war ein Förderer der Weltliteratur, und sein Vorsitz im tschechoslowakischen Zweig des Penklubs verpflichtete ihn direkt zum Kontakt mit seinen Kollegen im Ausland. Der Faschismus griff drastisch in die freie Szene ein. Ist heute eine andere Zeit, erleben wir eine Inflation der Literatur? Wer muss bei der Flut neuer Bücher den Überblick behalten, wer muss hochwertige Übersetzungen in Auftrag geben? Möchten Sie sich zu der aktuellen emotionalen Diskussion über “weiße“ und “schwarze“ Übersetzer äußern?

Einerseits gibt es in den letzten Jahren so viele Neuigkeiten in der Literaturwelt, dass man sie kaum alle verfolgen kann, andererseits erleben wir aber eine ökonomische Krise der kleinen Verlage. Interessante Neuerscheinungen werden nur in kleinen Auflagen publiziert und sind kaum in Buchhandlungen vor Ort verfügbar. Vor dem Beginn der Pandemie wollte ich in einer Berliner Buchhandlung das neue Buch eines bekannten deutschen Gegenwartsautors kaufen und habe vom Verkäufer gehört: „So etwas bieten wir nur im Online-Shop an, die Nachfrage ist zu gering“. Wenn aber die Gesellschaft leidenschaftlich darüber diskutiert, ob das Gedicht von Amanda Gorman von einer weißen Übersetzerin nachgedichtet werden darf, dann ist das ein Zeugnis dafür, dass Literatur ihre große gesellschaftliche, politische Relevanz nicht verloren hat. Sie bleibt ein Ort der Selbstreflexion und des Selbstverständnisses einer Gesellschaft. In diesem Kontext erinnere ich mich an eine andere leidenschaftliche Diskussion aus dem Jahr 1938. Damals hatte Karel Čapek öffentlich protestiert, nachdem das Londoner Savoy Theater sein Stück Die weiße Krankheit mit einer auffälligen Änderung auf die Bühne gebracht hatte. Die beiden Hauptrollen eines Diktators und eines pazifistischen Arztes wurden vom selben Schauspieler Oscar Homolka übernommen. Čapek empfand diese Doppelrolle als Entstellung seines Werks, während die britische Presse die Londoner Aufführung verteidigte. Mehr noch, im Vorfeld der Premiere bezeichnete the Guardian Die weiße Krankheit als einen Prüfstein für das gesamte britische Theater und die britische Gesellschaft: „If it [this play] fails here we shall be resigned to regarding ourselves as being, so far as the theatre can extend, one of the lost nations”.

Sind die Autoren von heute unabhängig von nationalen Interessen? Gibt es einen freien Gedankenaustausch unter Schriftstellern, laufen Stipendienprogramme für aufstrebende und etablierte Autoren gut?

In der heutigen Welt sind globale und lokale Perspektiven eng miteinander verflochten. Heute scheint uns das Wort ,Weltliteraturʻ selbstverständlich, aber man kann sich daran erinnern, in welchem Kontext dieser Begriff ursprünglich berühmt geworden ist. In den 1820er Jahren blickte Europa auf zwei Jahrzehnte der Koalitionskriege zurück und Goethe glaubte, dass der kulturelle, literarische Austausch zum gegenseitigen Verständnis und zu einem stabilen Frieden beitragen kann. Mit ,Weltliteraturʻ  meinte er vor allem das gegenseitige Kennenlernen und einen Dialog zwischen den lebendigen Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Ländern. Diese menschliche Dimension der Weltliteratur bleibt natürlich ein bisschen utopisch, gerade heute sind wir aber ein kleines Stück näher am Goethe’schen Ideal. Ich denke dabei an die ganzen existierenden Stipendien, literarischen Festivals, Buchmessen… Gerade Deutschland ist mit seinem Goethe-Institut, dem seit 1963 existierenden Künstlerprogramm des DAAD und zahlreichen Stiftungen ein Vorbild. Eine besondere Institution ist das „Literarische Colloquium Berlin“, das jedes Jahr viele internationale Übersetzer*innen und Autor*innen nach Berlin einlädt. Im Herbst 2020 war zum Beispiel die Tschechin Markéta Pilátová dabei. Ich würde einfach sagen: je mehr internationale Stipendien, desto besser, sowohl für junge Talente, als auch für bekannte Stimmen. Eine besondere Rolle kommt dabei denjenigen Autorinnen und Autoren hinzu, die sich bewusst zwischen Sprachen und Ländern bewegen. Zum Beispiel Jaroslav Rudiš: Mit seinem Roman Der Himmel unter Berlin (2002) hat er Berlin zu einem wichtigen Ort der tschechischen Literatur gemacht. Sein jüngster Roman Winterbergs letzte Reise (2019) wurde aber auf Deutsch verfasst und bringt das deutsche Publikum auf eine Reise durch Mitteleuropa.

Kleine Nationen haben ein sehr begrenztes Publikum. Um es auf der literarischen Weltbühne zu schaffen, braucht es echte Qualität. Wie nehmen Sie die tschechische Literatur im europäischen Kontext wahr?

In ihrer Geschichte verbindet die tschechische Literatur unterschiedliche kulturelle Traditionen: böhmisch, mährisch, jüdisch, deutsch, österreichisch. Deswegen symbolisiert Tschechien für mich gerade die europäische Literatur. Nicht ohne schmerzhafte Konflikte ist das ein Kulturraum des Austauschs, der Annäherung und der Versöhnung. An Welterfolg mangelt es meiner Meinung nach kaum in der tschechischen Literatur. Čapeks R.U.R. war im nächsten Jahr nach der tschechischen Uraufführung schon im Broadway zu sehen; die Verfilmung von Bohumil Hrabals Reise nach Sondervorschrift, Zuglauf überwacht wurde 1967 mit dem Oscar ausgezeichnet. Auch Gegenwartsautoren wie Jáchym Topol werden in viele Sprachen übersetzt.

Zurück zu Čapek – Visionär. Vor einem Jahrhundert warnte er vor dem Missbrauch der Wissenschaft, Das Absolutum oder die Gottesfabrik und Krakatit sind zeitlos. Können Sie mit dem Gedanken spielen, vor welchen Gefahren er uns heute warnen würde?

In mehreren Werken zeigt Čapek, was mit einer Gesellschaft passiert, die sich hauptsächlich auf Rationalität, Leistung und Wirtschaftswachstum fokussiert. Für Čapek ist das ein Weg in die Katastrophe. Mit der literarischen Erfindung des Roboters nimmt er nicht nur die künstliche Intelligenz, sondern auch das Bioengineering vorweg und rückt vor allem die ethische Frage nach der Verantwortung in den Vordergrund. Seine Antiutopien schildern, wie eine technogene Gesellschaft ihre eigene Umwelt zerstört und mit den Folgen des eigenen Handelns nicht zurechtkommt. Der Krieg mit den Molchen stellt eine geologische Katastrophe dar. Die ganzen Kontinentteile werden überflutet und eine internationale politische Konferenz zeigt den Egoismus einzelner Länder statt einer Weltkooperation. Das ist eine eindringliche Warnung vor globalen Konkurrenzen in den Zeiten der Klimakrise und der Pandemie, die nur durch eine gemeinsame Anstrengung aller Länder überwunden werden kann. In demKrieg mit den Molchen hat der Journalist Čapek auch davor gewarnt, dass ein Mensch sein unabhängiges Denken im Zeitalter der Medien verlieren kann. Ein Salamander aus dem Londoner Zoo namens Andy erlernt das Lesen mithilfe der britischen Zeitungen und kann sich bald problemlos mit den Zoobesuchern unterhalten. „Miláček Andy byl obležen lidmi, kteří s ním chtĕli zapříst hovor o všem možném, počínajíc počasím a končíc hospodářskou krizí a politickou situací“ (Andy, der Süße, wurde von Leuten belagert, die mit ihm über alles Mögliche reden wollten, vom Wetter über die Wirtschaftskrise bis zur politischen Lage).

Wir sprechen über Wissenschaft, Erfindungen, Bedrohungen für die Welt. Aber Karel Čapek war auch ein Humanist. Ich denke an seine Feuilletons über Gartenarbeit, Daschenka, die auf das menschliche Elend der Bewohner der Prager Peripherie während der Weltkrise hinweisen.

Ich bin mit Ihnen völlig einer Meinung! Der große Wert jedes menschlichen Lebens ist ein Dreh- und Angelpunkt von Čapeks Werken. Er warnt vor einer Entmenschlichung, sei es durch eine politische Ideologie, durch eine hochintelligente Technologie oder durch eine Konzentration auf Leistung und Profit. Das Menschliche ist eine Welt der sozialen Gemeinschaft, der Familie, der Kindheit, der gegenseitigen Fürsorge, der Solidarität zwischen Menschen und anderen Lebewesen. Der Philosoph und politische Journalist Čapek schrieb auch über die einfachen Freuden wie Gärtnerei oder Haustiere; er ist Autor von wunderbaren Kinderbüchern. Im Buch Daschenka. Das Leben eines jungen Hundes sagt der Erzähler seiner kleinen Hündin etwas, was dem Autor Čapek immer am Herzen lag: „Podle tvrzení nĕkterých zvířat je človĕk zlý, i mnozí lidé  to říkají; ale nevĕř tomu. Kdyby byl človĕk zlý a necitelný, vy pejskové byste se k nĕmu nepřidali a podnes byste žili divoce ve stepích” (Nach der Aussage einiger Tiere ist der Mensch böse, und viele Menschen sagen das auch; aber glauben Sie es nicht. Wäre der Mensch böse und gefühllos, hättet ihr Hunde euch nicht zu ihm gesellt, und ihr würdet noch immer wild in den Steppen leben).

Hier finden sie den Text in der tschechischen Sprache.

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