Deutschland schaltet das leistungsfähigste Kernkraftwerk der Welt ab. Die Tschechen wundern sich und bauen die Kernkraft im Gegenteil aus

Ende 2021 soll in Deutschland das funktionierende Atomkraftwerk Grohnde in Niedersachsen abgeschaltet werden, welches seit 1984 in Betrieb ist. Es hat nur einen Block mit der Leistung 1 430 MW und Anfang des Jahres wurde dort ein Weltrekord erreicht: Insgesamt lieferte das Kraftwerk ins Netz 400 Terawattstunden. Die Tschechen würden so etwas als nationalen Stolz ansehen. Die Deutschen schalten jedoch in den letzten zehn Jahren unbarmherzig ein Atomkraftwerk nach dem anderen ab. Die letzten sechs, welche noch übrig geblieben sind, werden nach Plan Ende 2022 außer Betrieb gesetzt. Warum hat der Großteil der deutschen Öffentlichkeit im Vergleich zu der tschechischen genau gegensätzliche Instinkte, welche sich so anstellt, als ob ohne die Fertigstellung von Dukovany das Land ein Blackout erwarten würde?

Das Kernkraftwerk Grohnde.

Beide Länder erlebten 40 Jahre in der ersten Linie des Kalten Krieges und wurden vom sowjetischen Kraftwerk Tschernobyl kontaminiert. In Deutschland herrschte aber in den 80er Jahren eine ganz andere Stimmung. Aus einem spontanen Widerstand gegen nukleare Technologien entstand hier eine Bürgergesellschaft, die hiesige BewohnerInnen, kirchliche Organisationen, Bauer und Bäuerinnen, Mitglieder der Friedensbewegung, Studierende, AkademikerInnen sowie PolitikerInnen vereinte.

Ketten gegen Kettenreaktion

Seit den 70er Jahren kam es im Westen regelmäßig zu ziemlich harten Zusammenstößen zwischen den Anti-Atomkraft-Aktivistinnen und -Aktivisten und der Polizei. Von der einen Seite flogen Brandflaschen, von der anderen strömte Tränengas. Hunderttausende BürgerInnen – nicht nur Aktivistinnen und Aktivisten – bildeten in Deutschland alle paar Jahre Menschenketten mit der ironischen Benennung KETTENreAKTION!. Der Transport vom radioaktiven Abfall in den Lagerort in Gorleben verspätete sich regelmäßig um einige Tage, weil die Aktivistinnen und Aktivisten die Gleise auseinandernahmen, damit er sein Ziel nicht erreicht.

So sahen die Anti-Atomkraft-Demonstrationen früher aus: 1979 kamen über 100.000 Menschen nach Bonn. Foto: Hans Weingartz.

Um die Jahrtausendwende nahmen die Deutschen aus ihren fast dreißig Atomkraftwerken etwa ein Drittel des Stroms ab, eigentlich fast so wie heutzutage die Tschechen von zwei. Auf den Grundlagen der Anti-Atomkraft-Bewegung in Deutschland entstand aber eine sehr einflussreiche Partei, heute die stärkste Gruppierung dieser Art auf der Welt. Sie heißt Bündnis 90/Die Grünen. Als sie im Jahr 1998 die Regierung mit Gerhard Schröder (SPD) bildete, war die Haltung der Gesellschaft zur Atomkraft schon so abweisend, dass sich die Mehrheit über ihren revolutionären Vorschlag freute.

Es handelte sich um das Atomgesetz, welches die Grundlage für den Atomausstieg war. Der bedeutet, dass alle Atomkraftwerke bis 2022 abgeschaltet werden. Und das passiert jetzt auch praktisch.

Einstellung zur Atomkraft

Dieses Abschalten war aber nicht so ganz geradlinig. Trotzdem reagieren die Deutschen und die Tschechen auf die Atomkraft-Meilensteine ganz verschieden. Den ersten geplanten Bau begannen die Deutschen mit ihren Körpern schon im Februar 1975 in Wyhl zu blockieren. Bilder der Polizei, wie sie Familien mit Kindern durch den Schlamm auf der Kraftwerksbaustelle zieht, erweckten zum ersten Mal die Sympathien der Öffentlichkeit für die Gegner des Atomkraftwerks und schon einen Monat später stellten die Behörden den Bau ein. Ungefähr in derselben Zeit erklangen in der tschechoslowakischen Wochenschau festliche Fanfaren, welche den Bau des zweiten Atomkraftwerks namens Dukovany ankündigten.

Charakteristisch war auch die Reaktion auf Tschernobyl im Jahr 1986. Die Kontamination war in beiden Ländern ähnlich (in Wirklichkeit ziemlich niedrig). Während in der Tschechoslowakei fast keine Gegenmaßnahmen ergriffen wurden (und es stimmt nicht, dass die Medien über den Unfall nicht informiert hätten), vernichtete man in der deutschen Landwirtschaft die kontaminierte Milch und das kontaminierte Getreide, Feuerwehrleute in Schutzanzügen wuschen Autos, die über die Grenze fuhren, und die Behörden ließen sogar den Sand auf Kinderspielplätzen auswechseln.

Atomkraft-Angela

Als sich Die Grünen im Jahr 1998 an der Bildung der Regierung beteiligten, hatten alle Tschernobyl noch in lebhafter Erinnerung. Alles schien besiegelt zu sein. Das allmähliche Abschalten der Atomkraftwerke fing im Jahr 2003 in Stade an und setzte 2005 in Obrigheim fort. Die Kernkraft hatte in Deutschland jedoch auch ihre Anhänger, alle waren aber gerade in der Opposition. Zwei von ihnen hießen Angela Merkel (CDU) und Guido Westerwelle (FDP). Die promovierte Physikerin Merkel teilte die Kernkraft-Psychose nicht und als sie 2009 mit Westerwelle die Regierung bildete, stoppte sie auf einmal den Atomausstieg.

„Ausstieg aus dem Ausstieg“, scherzten damals die Medien. Am Bundeskanzleramt in Berlin versammelten sich unmittelbar danach 50 000 Menschen aus der Anti-Atomkraft-Öffentlichkeit und zwischen den Metropolen entstanden neue Menschenketten. Die Deutschen würden den Krieg um die Kernkraft bis heute führen, wenn es im März 2011 in Japan das Tsunami nicht gegeben hätte. Das Wasser überflutete das Atomkraftwerk Fukushima, beschädigte die Druckbehälter des Reaktors und der entweichende Wasserstoff verursachte drei gewaltige Explosionen.

Krieg an zwei Fronten

Die Tschechen beobachteten den Unfall in Fukushima gleichgültig von ihren Sofas. Zum Schluss überlebte das Kraftwerk und zeigte so die Widerstandsfähigkeit ähnlicher Anlagen. Die Unterstützung der Kernkraft bewegte sich in Tschechien stabil über 50 Prozent und z. B. das Verhalten der Aktivistinnen und Aktivisten gegenüber dem Atomkraftwerk Temelín stieß auf Unmut. Die Physikerin Angela Merkel kehrte hingegen der Kernkraft blitzschnell den Rücken. Bis heute weiß man nicht, ob sie Fukushima wirklich erschreckt hat oder ob ihr nur bewusst wurde, dass sie gegen die öffentliche Meinung nie gewinnen kann. Auf einmal galt wieder der Ausstieg 2022 mit einem detaillierten Plan, wie und wann die übrigen 17 deutsche Kraftwerke abgeschaltet werden.

Bemerkung zur Illustration – die Atomkraftwerke, welche oben im weißen Feld keine Zahl haben, sind schon abgeschaltet, Quelle: de.wikipedia.org.

Die Tschechen schütteln nur verständnislos den Kopf. Deutschland führt den Krieg an zwei Fronten. Die Kernkraft-Ausfälle ersetzt man durch erneuerbare Energien, aber mehr noch durch Kohlekraftwerke. Deutschland verpflichtete sich jedoch dazu, auch diese ganz abzuschaffen. Das Ergebnis sind hohe Subventionen für die Solar- und Windkraftwerke, was der Grund dafür ist, dass Deutschland den zehnt teuersten Strom auf der Welt hat – ungefähr um die Hälfte teurer als in der Tschechischen Republik, welche den Kraftstrom in den gleichen Auktionen (Leipzig) für dieselben Preise kauft.

Die deutsche Anti-Atomkraft-Bewegung inspirierte andere Länder (Italien, Belgien, die Schweiz, Dänemark, Österreich), die Staaten der Visegrád-Gruppe gehören aber bestimmt nicht dazu. Hier gilt der genau gegensätzliche Konsensus – ohne neue Atomkraftwerke gelingt es nie, die Emissionsgrenzwerte zu erfüllen. Hauptsächlich die Tschechen verstehen den Ethos des deutschen Kernkraft-Widerstands überhaupt nicht. Er scheint ihnen irrational zu sein, wenn nicht eine wahnsinnige Laune. Sie verstehen nicht, dass es für die Nachkriegsgeneration der Deutschen ein Sieg der Bürgergesellschaft über die Polizei- und Behördenwillkür ist. Und vor allem ein großer Sieg im Kampf um eine sichere und gesunde Umwelt.

Hier finden sie den Text in der tschechischen Sprache

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