Das Wirtschaftswunder braucht neue Impulse und die Tschechen wollen dabei sein

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Als Zbyněk Frolík Anfang der 1990er Jahre in die Kleinstadt Wickede im deutschen Ruhrgebiet ging, hatte er ein klares Ziel: Er wollte das dortige Unternehmen Wissner-Bosserhoff für ein gemeinsames Vorhaben gewinnen. Zu dieser Zeit begann Frolík in Prag mit der Produktion von Klinikbetten, und dank innovativer Ideen und einer qualitativ hochwertigen Produktion ließ der Erfolg nicht auf sich warten. Um mit seinem tschechischen Team auf dem internationalen Markt erfolgreich zu sein, brauchte er aber etwas mehr. Und dieses Etwas sollte die weltbekannte Marke “Made in Germany“ sein.

🇨🇿 Tento článek si můžete přečíst i v češtině: Hospodářský zázrak potřebuje nové impulzy a Češi chtějí být u toho

Froliks Plan ging auf. Der deutsche Partner stimmte der Beteiligung an den Gewinnen aus den neuen Verträgen zu, außer seinem Namen hatte er nichts zu verlieren. Und die tschechisch-deutsche Verbindung verschaffte Froliks Unternehmen die notwendige Grundlage für einen wirklich internationalen Start.

Linet, heute weltweit führend in seiner Branche, ist für viele zum Inbegriff tschechischen Unternehmertums geworden, und die einstige tschechisch-deutsche Vereinbarung wurde inzwischen von einem wahrhaft globalen Erfolg in den Schatten gestellt. Es ist wohl unwahrscheinlich, dass sich die Geschichte von Frolik heute wiederholt. Das deutsche Potenzial, tschechischen Unternehmern und Kreativen die Tür zu höheren Sphären zu öffnen, bleibt in jedem Fall bestehen. Allerdings hat sich die Welt verändert, und über Erfolg und Misserfolg entscheiden heute andere Dinge. Und auch das, was die Welt unter der Marke “Made in Germany“ versteht, hat sich heute verändert.

Mit Frolík in den Bundestag

Die Statistik, dass etwa zwei Drittel der tschechischen Exporte auf den deutschen Markt gehen, muss wohl nicht mehr erwähnt werden. Deutschland ist die Hauptschlagader der tschechischen Wirtschaft und versorgt die meisten ihrer lebenswichtigen Funktionen. Der Wunsch, sich ihrer Position als billiges Montagewerk zu entledigen, wird jedoch immer stärker, und die Tschechen streben in diesem Bund zunehmend eine gleichberechtigte Position an. Der frühere Vorteil des niedrigen Preises ist bei weitem nicht mehr der wichtigste Faktor. Die meisten verlassen sich auf ihre eigene Entwicklung, die Arbeitseffizienz hat sich verbessert, und in vielen Bereichen wie der IT-Branche gehören sie zur Spitze. Und was vielleicht das Wichtigste ist – es gibt bereits reichlich tschechisches Kapital für die Expansion von Unternehmen.

Jüngste Beispiele sind die sympathisch ehrgeizige Expansion des tschechischen nternehmens Rohlík, das nun auch in den Metropolen Bayerns und Österreichs (unter den Namen Knuspr bzw. Gurkerl) Lebensmittel ausliefert. Um eine Expansion auf den deutschen Markt bemühen sich tschechische Fahrradhersteller, Fastfood-Ketten und Kaufhäuser.

Lassen wir einmal die wirklich großen Akteure beiseite, die zum Beispiel mit Milliardenumsätzen in den Energiesektor einsteigen. Deutschland beginnt, auch den Mittelstand wieder anzuziehen und – ganz im Sinne von Froliks Linet – auch vielversprechende Start-up-Unternehmen, die mit ihrem Know-how für frischen Wind auf dem deutschen Markt sorgen können. Ein Beispiel für alle: die offizielle App für den Deutschen Bundestag wurde vor vier Jahren von der deutschen Niederlassung des tschechischen Unternehmens Ackee programmiert.

Der Erfolg lässt sich sicherlich auch mit dem Generationswechsel erklären. Die Gründer erfolgreicher Familienunternehmen aus den 1990er Jahren geben die Führung langsam an ihre Nachkommen ab, die neue Impulse einbringen. Zu Wort kommt eine Generation, für die Europa und Deutschland ein viel natürlicheres Umfeld sind als die historischen Bindungen aus der Ära der Tschechoslowakei. Mit ein wenig Übertreibung kann man sagen, dass es für die Dreißig- und Vierzigjährigen von heute normal ist, in einem Hipster-Café in Prenzlauer Berg einen Flat White zu trinken, während sich die meisten nicht einmal vorstellen können, nach einem erfolgreichen Geschäftstreffen in Kiew mehrere Gläser Wodka zu trinken.

Kulturelle Nähe und wirtschaftliche Verflechtung sind eine Sache. Andererseits ist die Vorstellung, dass Geld und das Kopieren des tschechischen Geschäftsmodells und der Marketingstrategien (manchmal einschließlich eines Firmenmaskottchens) ausreichen, um in Deutschland erfolgreich zu sein, trotzdem naiv. Fachkräfte aus Unternehmen, die nach Berlin geschickt wurden, um nebenbei ihr Deutsch zu verbessern, kehrten meist mit leeren Händen und persönlich ausgebrannt zurück. Trotz der geografischen Nähe ist Deutschland in vielerlei Hinsicht anders.

Die Deutschen wachsen mit anderen Geschichten auf, haben oft andere Vorbilder und Verhaltensgrundsätze. Hier gilt, was überall auch: um die Zusammenhänge zu verstehen, muss man das Umfeld erleben und zumindest ein Teil von ihm werden. Die gute Nachricht ist, dass derzeit Neuankömmlinge – Tschechen nicht ausgeschlossen – willkommen sind.

Neue Zeiten, neue Herausforderungen

Nicht nur deutsche Automobile haben die Weltmärkte erobert und sind zu einem Symbol für Qualität und Zuverlässigkeit geworden. Das gilt für die Elektronik (Siemens), die Telekommunikation (Telekom), die Logistik (DHL), die Chemie (BASF) und die Versicherungen (Allianz) gleichermaßen. Durch präzise Planung, Arbeitsorganisation und den Nachdruck auf Entwicklung und Innovation scheinen die Deutschen das Mantra für ein erfolgreiches Geschäft in jedem Sektor entdeckt zu haben. Dies alles vor dem Hintergrund der Entstehung einer enorm großen unternehmerischen Mittelschicht, die im Grunde die frühere allgemeine Lust am Unternehmertum und an der Gründung von Gewerbebetrieben widerspiegelt.

Die deutsche Wirtschaft profitiert noch immer von diesem enormen Aufschwung, der heute meist mit dem Begriff Wirtschaftswunder umschrieben wird, und bis vor kurzem schien es, als könne niemand den fahrenden Zug aufhalten. Die Ära der Bundeskanzlerin Angela Merkel ist eine der wirtschaftlich erfolgreichsten in der deutschen Geschichte gewesen – seit dem Jahr 2000 hat sich das deutsche Bruttoinlandsprodukt von 2 Billionen Dollar auf 4 Billionen Dollar verdoppelt.

Doch die Herausforderungen sind enorm. Das auf der Globalisierung basierende Exportmodell ist bedroht, und es zeichnet sich eine neue bipolare Aufteilung der Welt ab. Engpässe bei der Versorgung mit Bauteilen und Rohstoffen, riesige Investitionen auf entfernten Märkten wie China, zunehmender moralischer Druck seitens der Politik und der Öffentlichkeit – all das bereitet den Ökonomen zunehmend Unbehagen.

Wie der Rest Europas hat sich Deutschland bisher nur an den digitalen Marktführern wie Google oder Apple orientiert und ist im Schlüsselbereich der Digitalisierung ins Hintertreffen geraten. SAP, der einzige größere Anbieter von Software und IT-Technologie, ist weit davon entfernt, in Übersee zu konkurrieren. Das Gefühl, dass Deutschland sich auf seinen Lorbeeren ausgeruht hat, prägte auch die diesjährige Bundestagswahl, bei der fast alle relevanten Parteien die Modernisierung des Landes in den Mittelpunkt stellten. Die größte Herausforderung ist die Dekarbonisierung und saubere Energie. Und die Rechnung, die die Coronavirus-Pandemie hinterlässt, wird ein Kapitel für sich sein.

Allein der Bundeshaushalt (ohne die Länderhaushalte) wird voraussichtlich rund 450 Milliarden Euro an neuen Schulden benötigen. Das ist ein Anstieg der Verschuldung um mehr als ein Drittel und, zur Veranschaulichung, 90 Milliarden mehr, als der deutsche Staat in einem vollen Haushaltsjahr vor der Pandemie ausgegeben hat. Die Deutschen sind überzeugt, dass die Wirtschaft wieder anziehen wird. Doch wie der Chef des renommierten Instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo) in München, Clemens Fuest, unlängst im Handelsblatt betonte, ist die Erholung noch fragil. “Es wird viel schwieriger sein, ein Wirtschaftswachstum zu erreichen, als in den Jahren vor der Pandemie. Die Bevölkerung altert und die Zahl der  Menschen im erwerbsfähigen Alter nimmt stetig ab“, warnt Fuest.

Jetzt wird entschieden

Auf jeden Fall kommen die großen Herausforderungen zu einer Zeit, in der Europa über die Notwendigkeit der Modernisierung spricht. Der ehrgeizige Grüne Deal hat den Kontinent in ein Jahrzehnt geführt, in dem diejenigen, die innovativ sind, am erfolgreichsten sein werden. Genau dies ist das deutsche Prinzip, das die Haltung Brüssels in den letzten Jahren mitbestimmt hat: in der Politik einen starken Druck auf Veränderungen zu erzeugen und gleichzeitig genügend Mittel zur Verfügung zu stellen. Und ebenso wichtig kommt die Überzeugung ins Spiel, dass wir Deutschen ein Beispiel für den Rest der Welt sein sollten.

Auf der tschechischen Seite der Grenze stößt man oft auf Skepsis und Kritik an den immer strengeren Vorschriften und den angeblich unrealistischen Zielen. Für die Deutschen hingegen ist das Abstecken eines neuen wirtschaftlichen Spielfeldes etwas, das logischerweise als Wettbewerbsvorteil angesehen werden kann. Seit Werner von Siemens Telegrafen und moderne Eisenbahnen in ganz Europa gebaut hat, wissen die Deutschen, dass diejenigen, die für neue Technologien die Benutzerstandards bestimmen, die besten Voraussetzungen für Erfolg haben. Alle anderen, die auf den angefahrenen Zug aufspringen wollen, müssen sich ihm anpassen.

Der revolutionäre Charakter der Wirtschaftspläne “Made in Germany“ ist gleichzeitig relativ. Jede Strategie und jedes neue Ziel wird in Deutschland mit großem Nachdruck auf Planung und Wirkungsanalyse erstellt. Und selbst das kühnste Ziel berücksichtigt das, was dem modernen Deutschland am meisten am Herzen liegt – Stabilität und die frühzeitige Erkennung von negativen Extremen in jedem Bereich. Berlin versucht zwar, sich als Europas Startup-Hauptstadt zu profilieren, aber die wirklich entscheidende Rolle spielen hier noch immer bekannte Unternehmensnamen und bewährte Praktiken.

Die Deutschen hoffen aufrichtig, dass ihr Wirtschaftswunder eine Evolution und keine Revolution erlebt. Und gerade hier kann die eingangs erwähnte Geschichte von Frolik eine enorme Inspiration sein. Denn in einer solchen Konstellation kann ein Juniorpartner mit frischen Ideen und einzigartigen Erfahrungen in einem extrem offenen und dynamischen Markt im Herzen Europas von unschätzbarem Wert sein.

Dieser Artikel erschein in dem N&N Czech-German Bookmag. Die neue Ausgabe des tschechisch-deutschen Buchmagazins können sie in den tschechischen Buchläden bzw. bei dem Verlag Albatros Media kaufen.

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