Jakub Hrůša: Ein Dirigent eines deutschen Orchesters kann keine technische Unzulänglichkeit übergehen. Probleme verlangen eine Lösung

In deutschen Orchestern kann kein technischer Mangel durch den bloßen Ausdruck des Glaubens an eine Verbesserung überwunden werden. Die Deutschen empfinden eine solche vermeintliche Großzügigkeit als Betrug an Wesen dessen, wofür sie alle zusammengekommen sind. Das Problem muss gelöst werden, erkannte Jakub Hrůša, heute Chefdirigent der Bamberger Symphoniker in Bamberg, Bayern, und Erster Gastdirigent der Tschechischen Philharmonie und der Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom, schon vor Jahren. Sein Ziel ist immer gleich: Das Orchester zu einer technisch vollendeten Leistung zu führen und zu inspirieren mit einer gewissen emotionalen Erhebung. Dabei muss ein Gleichgewicht angestrebt werden. Wenn der Dirigent sie gefunden hat, gibt es eine seltene Interaktion, mit der sich das Publikum verbindet, beschreibt er. Die Bamberger Symphoniker unter Jakub Hrůša werden am 21. September in Prag beim Dvořák Prag Festival auftreten.

Was entscheidet über den Erfolg eines Dirigenten?

Das Talent, Großartige Musik zu ergreifen, ihr eine Form zu geben, und gleichzeitig die Fähigkeit, zu erkennen, wie ein bestimmtes Stück von innen heraus aufgebaut ist. Ebenso wichtig ist die Fähigkeit, die von Ihnen geleiteten Leute davon zu überzeugen, der Idee, für die ihr alle zusammengekommen seid, zu folgen.         

Weder ein klangvoller Name noch ein mächtiges Publikumsinteresse garantieren also ein hohes künstlerisches Niveau. Aber hat ein Laie überhaupt eine Chance, ein gut eingespieltes Ensemble zu erkennen?

Ja. Ein musikalisch begabter Laie mit lebenslanger Hörerfahrung verfügt über ein ähnliches Maß an Fachwissen wie ein Musiker, nur aus einer anderen Perspektive. Aber auch ein Laie, der zum ersten Mal ein Konzert besucht, kann die Energie einer Aufführung spüren und eine unbeteiligte oder gelangweilte Aufführung von einer tollen unterscheiden.

Dennoch wird das Publikum eine mittelmäßige Leistung oft unkritisch mit stehenden Ovationen würdigen.

Ich finde es manchmal ärgerlich, wenn ich weiß, dass ein Konzert mittelmäßig ist und die Leute am Ende stehen und begeistert klatschen, weil sie vorher gelesen haben, dass es sich um einen großen Künstler handelt. Einige stehen jedoch aus Höflichkeit auf, um nicht durch ihr Sitzenbleiben ostentativ deutlich zu machen, dass sie es nicht mögen. Diese Erfahrung habe ich selbst gemacht. Wenn ich Vorbehalte gegen ein Konzert habe, aber alle um mich herum aufstehen, empfinde ich es als eine Geste großen Unmuts, sitzen zu bleiben, und – wenn ich nicht so unzufrieden wäre – würde ich auch aufstehen.

Ist es Ihnen schon einmal passiert, dass das Orchester Sie nicht akzeptiert hat?

Es ist mir noch nie passiert, dass ich nicht ostentativ akzeptiert wurde, wo man meine Bemühungen boykottierte. Es ist mir – wie jedem Dirigenten – passiert, dass das Orchester mir zwar folgte, aber in den Feinheiten und im Gesamtengagement nicht mit mir auf einer Stufe stand. Dies geschah bei mir eher am Anfang und bezeichnenderweise vor allem dann, wenn ich sehr selbstbewusst war.

Die Tatsache, dass ein Orchester dem ersten Geiger nach spielt, kann durchaus eine Tugend sein. Es gibt viele Dirigenten, die große künstlerische und charismatische Persönlichkeiten sind, aber Pointen zu setzen ist nicht ihre Stärke. Eine angemessene Symbiose kann in einem solchen Fall so aussehen, dass das Orchester dem ersten Geiger technisch zuarbeitet und dem Dirigenten in Bezug auf Absicht, Charakter und Engagement folgt. 

Gibt es so etwas wie einen Albtraum eines Dirigenten?

Das wohl erschreckendste Bild für einen Dirigenten ist das, dazustehen und vom Orchester völlig ignoriert zu werden. Ich hatte diesen Traum einmal und er war sehr unangenehm. Ein besonderes Lampenfieber verspüre ich, wenn ich nach langer Zeit mit Orchestern von herausragender Qualität zu einem Orchester komme, das in technischer oder anderer Hinsicht Reserven hat, und wir dennoch Musik aufführen, die mir sehr am Herzen liegt. Dieses Gefühl ist umso dringlicher, wenn es um tschechische Musik geht, die ich im Ausland präsentiere, wo sie noch nicht gehört wurde.

Ihnen ist natürlich auch der Idealzustand der absoluten Verbindung mit dem Orchester gut bekannt. Wie fühlen Sie sich dabei?

Ich habe dieses sehr schöne Gefühl mehr als einmal erlebt, mit einigen Orchestern ständig. Es kommt von der Gewissheit, dass wir uns im Konzert mit dem Orchester aufeinander verlassen können. Ich muss wissen, dass selbst wenn ich nur locker und andeutungsweise dirigiere, es für das Zusammenspiel des Orchesters ausreicht. Außerdem ist es bereit, mir auch dann zu folgen, wenn ich zusätzlich zu allen technischen Anweisungen eine künstlerische Absicht anzeige. Es ist wichtig, ein Gleichgewicht zu finden, bei dem man mit emotionaler Ladung schafft und gleichzeitig das Handwerk respektiert. Dann passieren die schönsten Momente. Und wenn sich das Publikum auf diese Art von wertvoller Interaktion einlässt, steht der Zufriedenheit schon kaum was im Wege. 

Sie sind der Haupt-Gastdirigent des Tokyo Metropolitan Symphony Orchestra.  Wie gefällt Ihnen die Zusammenarbeit mit den Japanern?

Ich mag Japan sehr. Selbst die häufigste Kritik, die höfliche Starrheit, wo die Leute nicht ertragen können, dass die Japaner sich so verhalten, wie es vorgeschrieben ist und nicht so, wie sie sich fühlen, stört mich im Prinzip nicht. Dieses für sie ganz natürliche Verhalten – sie merken nicht, dass es etwas Erlerntes ist – ermöglicht es ihnen, mit großer Leichtigkeit sensationelle künstlerische Ergebnisse zu erzielen. Ich wünschte, einige Menschen hätten wenigstens die erlernte Höflichkeit und Gastfreundschaft der Japaner.

Würde diese sprichwörtliche Disziplin nicht die kreative Freiheit einschränken?

Sie sind so kreativ, dass ich mich wundere. Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Japaner von Kindesbeinen an mit den Klassikern vertraut gemacht wurden, oft in Westeuropa oder Amerika, so dass es für sie genauso selbstverständlich ist wie für uns. Gleichzeitig ist es unglaublich, wie technisch fortgeschritten die Orchester dort sind. Ich kümmere mich nicht um technische Probleme und konzentriere mich nur auf die Interpretation.

Was ist charakteristisch für das japanische Publikum?

Das Phänomen der Autogrammstunden außerhalb der Massenproduktion. Es ist erstaunlich, wenn jemand mit einer Partitur der Symphonie “Aus der neuen Welt” aufwartet, deren erste fünf Seiten mit Dutzenden von Autogrammen beschriftet sind, und Sie fügen Ihr eigenes hinzu. Einige dieser Leute sind beinahe fanatische Kenner, wie die Twitter-Debatten voller fachkundiger Kommentare zu Details wie der Art des Spiels des dritten Posaunisten, der Art des Schlagzeugs oder der Tatsache, dass das Tempo schneller als gewöhnlich war, zeigen.

Aber es gibt noch weitere Weltorchester, mit denen Sie auftreten. Wie manifestiert sich der nationale Charakter in jedem von ihnen?

Sie ist auch von Institution zu Institution unterschiedlich. Es ist leicht zu erkennen, dass die Italiener ungestüm, lärmend und geräuschvoll sind. Aber dann kommt man an einen anderen Ort in Italien, der sehr diszipliniert ist, und man spürt den nationalen Charakter eher nur in den Pausen oder in der Rede des Publikums. Wenn etwas schief geht, schaltet das japanische Orchester zweihundert Prozent ein, um sich sofort zu konsolidieren. In der Tschechischen Republik gibt sich das Orchester unter dem Eindruck eines misslungenen Beginns oft mit dem Ergebnis der gesamten Aufführung zufrieden. Es ist, als ob es denkt: “Das ist schlecht, das nächste Mal mag es vielleicht wieder gut zu werden, aber heute können wir nur zusehen, daß wir irgendwie rüberkommen.” In Amerika ist der Respekt vor dem Ego und der Individualität wichtig. Jemandem in einer Machtposition zu diktieren, was er zu tun hat, ist keine Option. In Frankreich ist es nicht ratsam, die kreative Individualität anzutasten. Einem französischen Oboisten zu sagen, er solle eine Phrase auf die gleiche Weise spielen wie ein Klarinettist zuvor, um seinen Ausdruck zu vereinheitlichen, ist heikel. Er sieht den Schwerpunkt seiner Aufgabe gerade in der Möglichkeit, sich als Individuum auszudrücken. In deutschen Orchestern kann kein technischer Mangel durch den bloßen Ausdruck des Glaubens an eine Verbesserung überwunden werden. Eine solche vermeintliche Großzügigkeit wird von den Deutschen als Betrug am eigentlichen Grund ihres Zusammenkommens angesehen. Das Problem muss gelöst werden. In Russland habe ich versucht, mich höflich und taktvoll zu verhalten, und musste feststellen, dass sich das Orchester, wenn ich das tat, so verhielt, als hätte es keinen Leiter. Für die war es eher ein Ausdruck von Schwäche. Erst als ich hart wurde, meine Stimme erhob und anfing, mich wie ein Macho aufzuführen, erkannte das Orchester, dass jemand das Sagen hatte, und begann, sich zu bemühen. Auf höfliche und freundliche Weise hatte ich in Russland praktisch nichts erreicht.


Jakub Hrůša (*1981 in Brünn)

Nach dem Abitur in Brünn machte er 2004 seinen Abschluss an der Akademie der darstellenden Künste in Prag. Seit Herbst 2016 ist er Chefdirigent der Bamberger Symphoniker. Er ist Erster Gastdirigent der Tschechischen Philharmonie und der Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom, mit der er mit großem Erfolg bei den offiziellen Feierlichkeiten zum 75-jährigen Bestehen der italienischen Republik auftrat. Im vergangenen Jahr dirigierte er innerhalb eines Monats die New Yorker, Berliner und Wiener Philharmoniker, zu denen er nun regelmäßig zurückkehrt, sowie in Opernhäusern in aller Welt, darunter dem MET in New York, Covent Garden in London und den Opernhäuser in Wien und Paris, und gastierte regelmäßig bei den Festivals in Glyndebourne, Salzburg und vielen anderen. Von 2010-2018 war er Erster Gastdirigent des Tokyo Metropolitan Symphony Orchestra. Laut dem Online-Musikportal Bachtrack war er 2017 mit 63 Konzertauftritten, 18 Opernaufführungen und 81 Auftritten in verschiedenen Genres einer der meistbeschäftigten Dirigenten der Welt. Das Portal zählte ihn auch in den folgenden zwei Jahren zu den meistbeschäftigten Dirigenten der Welt.

Jakub Hrůša ist mit vielen führenden Orchestern der Welt aufgetreten, darunter dem Cleveland Orchestra, dem Los Angeles Philharmonic, dem London Philharmonic Orchestra, dem Russischen Nationalorchester, der Tschechischen Philharmonie und vielen anderen.

Jakub Hrůša hat mehrere Aufnahmen gemacht, die alle von der Kritik positiv aufgenommen wurden. Besonders hervorzuheben ist eine Live-Aufnahme von Smetanas Mein Land mit dem PKF vom Prager Frühlingsfestival 2010.

Für weitere Informationen besuchen Sie www.jakubhrusa.com

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