Martin Nekola: Flüchtling ist in unserem Land ein Schimpfwort, dabei sind die Tschechen überall verstreut

Das Wort “Flüchtling”, “Migrant”, “Einwanderer” ist im allgemeinen Bewusstsein in Tschechien mit pejorativen Assoziationen verbunden – ja es ist fast ein Schimpfwort. Der Politikwissenschaftler und Historiker Martin Nekola weist in diesem Kontext darauf hin, dass in bestimmten Momenten in der Vergangenheit auch die Tschechen die Republik verlassen und sich ins Ungewisse begeben mussten, wo sie in Flüchtlingslagern unterkamen, und er erinnert daran, dass auch sie jenseits der Grenzen oft unerwünscht waren. “Es ist eine nicht endende Geschichte. Die Tschechen waren überall verstreut, so dass ich für immer Bücher und Artikel schreiben und in Archiven recherchieren kann”, konstatierte Nekola, der im September in Amerika war, dort zwanzig Städte besuchte, Vorträge hielt und Landsleute traf, im Interview für N&N.

Durchschneiden des Eisernen Vorhangs. Foto: Archiv Martin Nekola

Bei Ihren Recherchen haben Sie sich auf das tschechoslowakische Exil fokussiert. Seit wann haben die Tschechen ihr Land verlassen und was waren ihre Gründe dafür?

In der modernen tschechischen Geschichte gibt es etwa fünf Generationen von Migrationsbewegungen (Auswanderungswellen), beginnend mit der österreichisch-ungarischen Ära, als die Menschen die tschechischen Länder aus politischen oder religiösen Gründen verließen. Sie gingen aber auch aus rein wirtschaftlichen Gründen, weil die Bauern kein gutes Land mehr hatten, das sie bewirtschaften konnteN&Nbsp;- das meiste Land war von der Kirche, dem Adel, dem reichen Bürgertum oder den Industriellen parzelliert worden. Als dann in tschechischen Zeitungen Anzeigen erschienen, dass in Amerika riesige Grundstücke für wenig Geld zu haben seien, war das ein Anreiz, hier den gesamten Besitz zu verkaufen, den Zug nach Hamburg oder Bremen zu nehmen und den Atlantik zu überqueren.  

In welche Länder sind die Tschechen am häufigsten ausgewandert und warum haben sie gerade diese Länder gewählt? 

Seit dem 19. Jahrhundert waren die Tschechen als geschickte Handwerker oder Landwirte bekannt, so dass der russische Zar sie an die Mittelmeerküste oder auf die Krim einlud, um dort landwirtschaftliche Siedlungen zu gründen und so die Regionen zu beleben.  

In der Zeit unmittelbar nach der Gründung der Tschechoslowakei, als die bürokratischen Hürden für Ausreisen gefallen waren, die Armut jedoch weiter bestand, war Lateinamerika, insbesondere Argentinien und Brasilien, sehr beliebt. In den dortigen Dschungeln mussten allerdings selbst erfahrene Bauern oftmals aufgeben und nach Europa zurückkehren, weil das Klima anders war als das gemäßigte Klima, das sie von zu Hause gewohnt waren, und weil die Ernten schlecht ausfielen.

Nach 1939 verließen infolge der Nazi-Besetzung viele Juden das Land. Sie besaßen Vermögen und begannen auf andere Weise – zum Beispiel mit der Gründung von Unternehmen oder dem Bau von Fabriken. Weitere Wellen folgten nach der kommunistischen Machtübernahme im Jahr 1948 oder der Invasion im August 1968.   

Die Zielstaaten haben sich also im Laufe der Jahre geändert, Traumziel waren nichtsdestotrotz immer die Vereinigten Staaten von Amerika, die Einwanderungsquoten verlängerten die Wartezeiten aber schon seit dem Ersten Weltkrieg auf 3 oder sogar 8 Jahre. Die Flüchtlinge von 1948 gingen dann in das damals sehr offene Australien, nach Kanada, Neuseeland oder Südafrika.   

Eine gewisse Gemeinschaft amerikanischer Tschechoslowaken trifft sich regelmäßig unter einer Linde, wo sie ein Schlachtfest feierN&Nbsp;- vertiefen sich die Sehnsucht und die Bedeutung von Symbolen nicht gerade mit der Entfernung von der Heimat?   

Ja, aber es ist nicht so schlimm wie zu Zeiten des Kalten Krieges. In den Nachbarländern ist das nicht so ausgeprägt, diese Menschen können in ein paar Stunden hier sein, und dank des Internets können sie jetzt überall auf der Welt tschechische Nachrichten sehen. Der Wunsch der Nachkommen von Emigranten, die tschechischen Bindungen zu stärken, zeigt sich im Übrigen am relativ großen Interesse an einer doppelten Staatsbürgerschaft. Dem entsprochen haben auch die tschechischen Behörden, indem sie 2019 die Ausstellung von Pässen für Antragsteller aus dem Ausland, die ihre tschechischen Wurzeln nachweisen können, erleichtert haben. 

Wann war die Flucht am riskantesten? Bekanntlich war das Regime der kommunistischen Tschechoslowakei in den 1950er Jahren am brutalsten, aber die Grenze wurde nicht mehr so streng bewacht, wie es bei ihrem Ende der Fall war, als einerseits das Auftauen einsetzte und dennoch Menschen an der Grenze bis in die letzten Monate ihres Bestehens erschossen wurden. 

Ende der 1940er Jahre, als Zehntausende von Menschen die Tschechoslowakei verließen, bis 1951 gab es relativ viele Grenzübertritte. Wenn man nicht das Pech hatte, einem Grenzbeamten mit einem Hund zu begegnen, war es möglich, die Grenze zu überqueren. In den Folgejahren kamen Stacheldraht und Zollzonen hinzu, dann wurde die ganze Republik verdrahtet und dort mit Strom versehen. Die tschechische Natur ist erfinderisch, erfolgreiche Übergänge waren trotzdem selten.  

Flüchtlingslager in Ludwigsburg bei Stuttgart Foto: Archiv Martin Nekola

Inwieweit rächte sich das Regime an den Angehörigen der Emigranten?

Es rächte sich absolut unmenschlich. Wenn jemand ging, wurde die ganze Familie verfolgt, die Kinder konnten nicht studieren, den alten Eltern wurde von den Behörden die Rente gestrichen, die Menschen wurden aus ihrer Arbeit geworfen. Es hing aber auch davon ab, wie aktiv der Auswanderer war. Wenn er zum Beispiel für Radio Free Europe arbeitete oder direkt nach Amerika ging und sich dort öffentlich gegen das kommunistische Regime aussprach, hatte der Apparat einen dicken “Knüppel” für ihn. 

Außerdem waren diese Menschen hier zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden, so dass sie bei ihrer Rückkehr nach der Samtenen Revolution mit den Behörden streiten mussten, um eine Annullierung ihrer Urteile und die Löschung von Vermerke in ihren Akten zu bewirken, was ihnen das Leben hier erschwerte. 

Ich ziehe meinen Hut vor den Menschen, die den Mut hatten, zu gehen, denn sie mussten damit rechnen, dass sie jahrzehntelang verfolgt werden und ihre Familie bis hin zu den Enkeln gebrandmarkt sein würden. 

Vom Wunsch nach Freiheit zeugen der Scharfsinn und die große Entschlossenheit der Flüchtlinge. Ein Automechaniker, der einen ausrangierten Schützenpanzerwagen der Wehrmacht reparierte und dann mit seiner Frau und zwei Kindern in ihm die Grenze überquerte. Ein anderer stumpfte die Aufmerksamkeit der Grenzbeamten mit seinen regelmäßigen Fahrten in einem Fäkalienwagen so lange ab, bis er eines schönen Tages entkam. Welcher Fall ist Ihnen aufgefallen?

Ich habe gerade ein Buch über die Tschechen in Neuseeland veröffentlicht. Dort ließ sich Ladislav Světlík, der im Krieg RAF-Pilot war und danach in der Heimat als Zivilpilot für die Tschechoslowakische Fluggesellschaft arbeitete. Als sich nach 1948 die Wolken über ihm zusammenzogen, arrangierte er mit zwei Kollegen, ebenfalls Kriegspiloten, eine koordinierte, synchronisierte Flucht. Sie entführten drei Dakotas samt PassagiereN&Nbsp;- eine startete in Prag, eine in Ostrava und eine in Brno – und alle drei landeten auf dem amerikanischen Militärflughafen in München, wo sie mit zahlreichen Passagieren, die ebenfalls blieben, ihre Freiheit erlangten.  

Alle übrigen Kriegsflieger erhielten sofort ein Flugverbot und wurden anschließend vom Regime unter diversen Vorwänden inhaftiert. 

Tschechische Flüchtlinge nach Februar 1948 im Valka-Lager bei Nürnberg Foto: Archiv Martin Nekola

War Deutschland ein beliebtes Ziel für tschechoslowakische Emigranten, oder war es eher eine Umsteigestation auf dem Weg nach England, in die Vereinigten Staaten oder anderswo in Übersee?

Nach 1948 war es eher eine Umsteigestation, weil Deutschland immer noch zerstört und von den vier Mächten besetzt war. In Deutschland und Österreich sammelten sich zu dieser Zeit Hunderttausende Flüchtlinge aus Osteuropa – vertriebene deutsche Minderheiten aus Mitteleuropa, vom Balkan, Polen, Ungarn, alle auf der Flucht vor den entstehenden kommunistischen Regimen, und in den Flüchtlingslagern hatte sich eine Art Babylon der Nationalitäten angesammelt, und alle wollten raus aus Europa. 

Die Tschechen konzentrierten sich in München, in West-Berlin und, wegen des Hafens, in Hamburg. Sie bildeten dort eine Art Gemeinschaft, sie trafen sich, und es gab eine Zeitschrift für Landsleute, aber es war ein Leben wie das einer Eintagsfliege. 

Nach 1968 war die Situation anders, Deutschland ging es wirtschaftlich bereits gut und viele Tschechen ließen sich entweder dort oder in Österreich nieder. In dieser Zeit öffneten sich die westlichen Länder für uns, da sie uns als Opfer der sowjetischen Aggression sahen, vor der wir geflohen waren, und das Asylverfahren wurde auf wenige Wochen verkürzt.

Das tschechische Exil in Deutschland hat eine lange Geschichte. Beschäftigen Sie sich auch mit den Nachkommen der Exilanten nach der Schlacht am Weißen Berg, die vor mehr als 280 Jahren die Siedlung Böhmisch Rixdorf im heutigen Berliner Bezirk Neukölln gegründet haben?

Zur Zeit der erzwungenen Rekatholisierung in der Zeit nach der Schlacht am Weißen Berg verließen etwa 40 000 Menschen das Land und siedelten sich in den deutschen Ländern, in den Niederlanden oder in Skandinavien an, aber schon damals gab es viele Tschechen in Deutschland. In den Archiven finden sich Hinweise auf sie ab dem 17. Jahrhundert. Von Kollegen, die sich mit der Frühen Neuzeit beschäftigen, weiß ich, dass dies ein kompliziertes Gebiet ist, nicht zuletzt wegen der Sprachbarriere, weil die Quellen weder auf Hochdeutsch noch auf Tschechisch vorliegen, sondern in verschiedenen Dialekten. 

Ich interessierte mich diesbezüglich für den um Cheb und Aš gesprochenen Dialekt, der egerländisch genannt wird. Es handelte sich um Katholiken, was eine Besonderheit war, denn die meisten dieser böhmischen Deutschen waren Protestanten.  Sie sprachen ein spezifisches Deutsch, aber kulturell waren sie Tschechen. In der tschechischen Emigration lassen sich  einzigartige Gemeinschaften verfolgen. Nach seinen Landsleuten zu suchen, ist ein abenteuerlicher, interessanter Job.

Welche der Geschichten über die Tschechoslowaken in Deutschland hat Sie besonders beeindruckt? Bedeutende Emigranten in Deutschland, Menschen, die dort als Intellektuelle oder Unternehmer ihre Spuren hinterlassen haben.

Da ich mich für das Exil nach 1948 interessiere, interessiere ich mich für die Arbeit der Redaktion von Radio Free Europe, die nicht nur eine Rundfunkstation war, sondern auch eine Denkfabrik, in der die Redakteure Analysen über die Entwicklungen hinter dem Eisernen Vorhang verfassten, und ein soziales und kulturelles Zentrum, in dem die Gemeinschaft zusammenhielt. Sie versuchten, Propaganda- und Informationskampagnen zu entwickeln, um das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei zu schwächen. Bekanntlich wurden sie von der CIA bezahlt und erfüllten das Konzept des Kalten Krieges, einen Gegner aus der Feder des amerikanischen Geheimdienstes zu schwächen. Dort agierten renommierte Journalisten. Sie haben gute Artikel, Studien und Berichte geschrieben, die den Menschen auch heute noch etwas geben, weshalb ich sie in einer Sammlung veröffentlichen möchte. Sie dachten über das mögliche Konzept eines vereinten Europas nach, wenn das kommunistische Regime zusammenbricht und der Eiserne Vorhang fällt.  Wir leben heute in ihm, sie haben darüber aber schon in den 1950er Jahren nachgedacht. Sie gingen davon aus, dass die historische Feindschaft gegenüber den Deutschen enden würde, weil die neuen Generationen nicht mehr damit belastet seien, und dass eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit beginnen würde. Heute arbeiten zum Beispiel die Rathäuser in grenzüberschreitenden Mikroregionen auf diese Weise zusammen. Was mir daran gefällt, ist, dass sie Jahrzehnte vorausgedacht haben und wir jetzt die Früchte ihrer Ideen ernten. 

Das Gebäude der Münchner Redaktion von Radio Free Europe Foto: Archiv Martin Nekola

PhDr. Martin Nekola, Ph.D. 

Historiker und Politikwissenschaftler, Popularisator des Themas Landsleute in der Welt und Koordinator des Projekts the Czechoslovak Talks, das inspirierende Lebensgeschichten von Tschechen im Ausland sammelt. Wenn Sie Erfahrungen mit dem Leben in Deutschland haben, schreiben Sie Ihre Geschichte und hinterlassen Sie eine Nachricht auf obenstehender Website. 

Martin Nekola hält regelmäßig Vorträge an amerikanischen Universitäten; in diesem Jahr veröffentlichte er die Bücher “Český  New York” und ” Po stopách Čechů na Novém Zélandu: za dlouhým bílým oblakem”. 

Auf dem Weg in die Zukunft. Foto: Archiv Martin Nekola

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