Poesie im Werk von Leiko Ikemura

„Im April 2024 besuchte ich Leiko Ikemura während des Gallery Weekends in Berlin in ihrem außergewöhnlichen Atelier im Herzen Kreuzbergs, das von ihrem Ehemann, dem Architekten Philipp von Matt, entworfen wurde. Der Raum ist geprägt von klaren Linien und Kanten sowie von nacktem, rauem Beton. Hier entstand die Idee, diese einzigartige Künstlerin zu porträtieren,“ berichtet unsere Berliner Kunstredakteurin Marcela von Kayser.

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Ihre erste Begegnung mit den Werken der großartigen japanisch-schweizerischen Malerin, Illustratorin, Fotografin und Dichterin Leiko Ikemura hatte sie vor vielen Jahren in der Kölner Galerie Karsten Greve. Damals war sie tief beeindruckt von den  phantasievollen und geheimnisvollen Glasskulpturen von Hasen. Seitdem verfolgt sie ihre Arbeit mit großem Interesse und hatte mehrfach die Gelegenheit, diese außergewöhnliche Künstlerin persönlich zu treffen und ihre Entwicklung aus nächster Nähe zu verfolgen.

Aus Japan nach Spanien

Als Einundzwanzigjährige verließ Leiko ihre japanische Heimat, um Anfang der 1970er Jahre ihr Studium der spanischen Literatur in Spanien fortzusetzen, das damals noch fest unter dem diktatorischen Regime Francos stand. Sie studierte Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in Sevilla und erlebte in Spanien nach dem Ableben Francos auch den Antritt der Demokratie.

Zehn Jahre später, in den frühen 1980er Jahren, setzte  sie erste wichtige Akzente in der pulsierenden Züricher Kunstszene. Die 1980er Jahre hatten in der Kunstwelt eine besondere Bedeutung, denn sie brachten die charakteristische, neo-expressive Malereibewegung der „Neuen Wilden“ hervor, sei es in New York, West-Berlin oder Zürich.

Usagi Kannon II (Kaninchenmadonna) gehört zu Ikemuras
tragendsten Motiven. Das Mischwesen mit Hasenohren
und einem weinenden, menschlichen Gesicht fungiert als
Symbol der universellen Trauer. Sie hat sie erstmals 2011 als Reaktion auf die Atomkatastrophe von Fukushima in Japan und die daraufhin gemeldeten Geburtsfehler bei Tieren geschaffen. Die hohe Bronzeskulptur wurde 2022 auch im Aquí Estamos, Ciutat de les Arts i les Ciències, in Valencia ausgestellt.

Ihre Übersiedlung 1990 nach Deutschland gab ihr die Freiheit, die unterschiedlichen Traditionen von Ost und West zu verbinden und ihre eigene unverwechselbare, vielschichtige und poetische Sprache zu entwickeln. Auch wenn sie sich nicht direkt als Mittlerin zwischen der Kultur ihrer japanischen und europäischen Heimat verstanden wissen will. Ihre Kunst ist weder europäisch noch asiatisch eindeutig geprägt; in ihrem umfangreichen malerischen und bildhauerischen Werk bewegt sie sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zwischen den Kulturen, die einander so fern sind. Und doch bleibt die japanische Kultur, ihre in Asien fußende Spiritualität, in ihren Kunstobjekten besonders sichtbar. 

Universelle Kunstsprache

Leiko Ikemura hat sowohl im Westen als auch in Japan und im asiatischen Raum große internationale Anerkennung und Verständnis gefunden. Ihr internationaler Erfolg ist das Ergebnis  ihres unverkennbaren Stils, der allgemein als künstlerische Formensprache  verstanden wird. Die lange Jahre in Berlin lebende Künstlerin lässt immer wieder  Poesie in ihr Werk einfließen. Sie sagt über sich, sie habe eine tiefe Liebe zum Wort – nicht nur im literarischen Sinne, sondern vor allem in Bezug darauf, wie Worte und Sprache in der bildenden Kunst wirken. Der Kontrast zwischen Wort und Bild, Wort und Materie spielt für sie eine zentrale Rolle.

Doppelfigur mit einem Vogel in der Hand aus patinierter Bronze,, 56 x 40 x 26 cm
Foto: Jörg von Bruchhausen

2016 beteiligte sie sich im Ashikaga Museum of Art in Tochigi in Japan an der Gruppenausstellung Painter of Poetry, Poet of the Picture. Bei näherer Betrachtung ihrer Kunst findet man in ihren archaisch anmutenden Mischwesen  Verletzlichkeit, Zerbrechlichkeit und  Spiritualität, aber auch Vergangenheit und Zukunft. Sie schweben scheinbar schwerelos und unerreichbar am Horizont zwischen Erde und Himmel. Sowohl in ihren figurativen Skulpturen als auch in ihren kosmischen und horizontalen Landschaften findet sich der Betrachter in einer Zwischenwelt wieder, in der Menschen zu Tieren werden oder Felsen und Pflanzen menschliche Züge annehmen. Diese Mehrdeutigkeit und Fähigkeit zur Verwandlung spiegeln sich in allen ihren Werken wider. Die Freude am Material selbst ist spürbar.

Das umfangreiche Werk  der vielseitigen  japanisch-schweizerischen Künstlerin ist derzeit in mehreren Ausstellungen in Europa und Asien zu bewundern. Auch in Prag ist der Name Leiko Ikemura nicht unbekannt, denn 2007 präsentierte der Galerist und Kunsthistoriker Jiří Švestka ihre Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen in einer Einzelausstellung.

Dieser Artikel erschien in der siebten Ausgabe des Printmagazins N&N – Noble Notes