Straßburg, Hauptstadt Europas? Von dem, was angeboten wird, ist es immer noch die beste Wahl

Strasbourg, France – December 28, 2017 : electric tram train of the Strasbourg public transport company (CTS) running on a street in the city on a winter day
Es ist vielleicht der einzige Ort auf der Welt, wo Pendler mit der Straßenbahn zur Arbeit fahren. So wie ich heute zum Europäischen Parlament gefahren bin. Es ist Mitte Dezember und im Straßburg wird zum letzten Mal in diesem Jahr eine Plenartagung des Europarlaments abgehalten. In den Wochen, in denen die Plenartagungen hier stattfinden, kommen mehrere Tausend Abgeordnete, ihre Assistenten, Fahrer, Sicherheitskräfte, Dolmetscher und andere Mitarbeiter des Europäischen Parlaments in die Stadt. Und auch viele Journalisten.

Straßburg – eine Stadt, von der man aus Deutschland mit der Straßenbahn ausreist Foto: Shutterstock

Die örtlichen französischen Hotels reagieren auf diese Tatsache, indem sie ihre Preise ohne mit der Wimper zu zucken brutal erhöhen. Es liegt oft nicht in unserer Macht, eine akzeptable Unterkunft zu finden, die nicht nur eine einfache Herberge ist. Deshalb zieht es viele Menschen und mich auch über den Rhein nach Deutschland. Und zwar nach Kehl. Die Preise sind dort eher moderat. 

Und vor allem gibt es hier eine moderne Straßenbahn, die im Viertelstundentakt vom Rathaus abfährt und sie in wenigen Minuten in das Zentrum von Straßburg bringt. Ihr Ticket ist in beiden Städten beider Länder gültig, denn es gibt hier den sogenannteN&Nbsp;„Eurodistrikt“.

Die Straßenbahn ist in der Regel ziemlich voll, und zwar in beiden Richtungen. Aus dem französischen Straßburg fährt man nach Kehl, um dort billiger einzukaufen, billiger zu tanken und auch um dort zu arbeiten. Die Dame, die mir im Gasthof Hofreiter das Frühstück zubereitete, kam offensichtlich aus der französischen Seite des Rheins und sprach fast kein Deutsch.

In anderer Richtung fährt man aus dem deutschen Kehl nach Frankreich zur Schule und Kultur oder um die Restaurants und die berühmten Weihnachtsmärkte zu besuchen. Und natürlich auch um die Denkmäler und turistische Ziele zu besichtigen, denn den Reiz im billigeren Kehl zu wohnen und mit der Straßenbahn in das viel schönere und interessantere historische Straßburg zu fahren haben schon auch die Touristen entdeckt. Die deutschen und gleichfalls die aus anderen Ländern.

Es waren die Franzosen, die Kehl fast von der Landkarte tilgten. Nach dem Zweiten Weltkrieg lasssen sie die Stadt vollständig räumen und machten die zum Hauptquartier ihrer Rheinflotte. Die französische Annexion von Kehl und damit der Versuch die Stadt aus der Welt zu schaffen wurde durch das Washingtoner Abkommen aus dem Jahre 1949 verhindert. Erst nach diesen Vereinbarungen begannen die Menschen nach Kehl zurückzukehren und die Bevölkerung wuchs allmählich auf die heutigen 35 000 Einwohner an.

Europarat als auch Europäische Parlament

Die deutsch-französische Aussöhnung der Nachkriegszeit, die nach Jahrzehnten der Integration zur heutigen Europäischen Union führte, machte Straßburg zur „Hauptstadt Europas“. Das behauptet Straßburg selbst. Zumindest verkünden es die Schilder an den Straßenbahnen.

In der eine Viertelmillion Einwohner zählende Hauptstadt des Elsass, das heute zwischen Frankreich und Deutschland aufgeteilt ist, wurde in den letzten zwei Jahrhunderten öfter als es gesund wäre die Herrschaft gewechselt. 

Die Stadt, die bis 1870 französisch, dann bis 1918 deutsch, dann bis 1940 wieder französisch, dann bis Oktober 1944 deutsch war und seither bis heute wieder französisch ist, erhebte immer Anspruch auf das „Europäertum“.

Im Jahre 1949 wurde hier der Europarat gegründet, der hat aber heute mit der Europäischen Union nichts mehr zu tun. Als in den 1950er Jahren die Mitglieder des sich allmählich bildenden Europäischen Parlaments fingen an zu tagen, wurde ihnen einer der Säle des Europarats für ihre Versammlungen zur Verfügung gestellt. 

Und so wurde beschlossen, dass das Europäische Parlament seinen Sitz in Straßburg haben sollte und nicht in Luxemburg, wo sich ebenfalls viele europäische Institutionen befinden. Heute hat das Europäische Parlament jedoch einen größeren und stärker genutzten Sitz in Brüssel, und die Abgeordneten kommen nach Straßburg noch zehnmal im Jahr, obwohl nur um ihre Pflicht zu erfüllen. Wenn in Straßburg der Sitz des Europäischen Parlaments abgeschafft würde, könnten mehr als 100 Millionen Euro pro Jahr eingespart werden. Das sind aber nur theoretische Überlegungen, denn Frankreich will so etwas gar nicht hören, und Deutschland würde es nie wagen, es zu fordern.

Was die europäischen Institutionen betrifft, ist Straßburg nicht nur der Sitz des Europäischen Parlaments. Es gibt hier den bereits erwähnten Europarat, der nicht nur deshalb wichtig ist, weil er das Gremium darstellt, das sich heute mit der Achtung der Menschen- und Bürgerrechte befasst, sondern auch, weil ihm fast 50 Länder angehören, darunter Russland, Kasachstan, Türkei und viele andere, die nicht Mitglieder der EU sind und es vielleicht auch nie sein werden. Es gibt hier auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, bei dem beispielsweise Alexej Nawalny erfolgreich gegen das Urteil der russischen Gerichte geklagt hat. Es gibt hier auch den Sitz der Europäischen Wissenschaftsstiftung und den Sitz des deutsch-französischen Fernsehsender ARTE und das Kommando des Eurokorps, einer Art embryonaler gemeinsamer EU-Armee. Und wir finden in der Stadt etwa zehn andere europäische Institutionen. Daher gibt es hier viele Konsulate, darunter das amerikanische, russische, britische und schweizerische.

Villkommen in Straßburg – der Hauptstadt Europas, steht auf den Straßenbahnen Foto: Claude Truong-Ngoc

Straßburg als Ort des Zusammenpralls der Kulturen und der Assimilation

In Wahrheit macht all dies Straßburg nicht zu einer europäischen Hauptstadt. Vielmehr ist es diese seltsame Kombination aus deutsch-französischer Kultur, von der Architektur der Fachwerkhäuser über das Essen (Kohl mit geräucherter Wurst und Bier) und das Trinken (Bier und Wein) bis hin zur Zweisprachigkeit. Aber Frankreich betreibt hier eine eher abstoßende Assimilationspolitik, die dazu führt, dass Elsässer-Deutsch (das von Paris als Dialekt des Französischen bezeichnet wird) ziemlich schnell verschwindet, ebenso wie die gesamte ursprüngliche Kultur des deutsch-elsässischen Straßburgs. Außerdem ist die Stadt dank der auf Straßburg ausgerichteten Einwanderungspolitik Frankreichs (die darauf abzielt, den Anteil der deutschen Elsässer zu verringern) heute sehr multikulturell – es gibt hier Juden und Araber, die alle ursprünglich aus Algier stammen, Menschen aus den französischen Kolonien in Afrika und neue Einwanderer aus dem EU-Osten oder Russland.

Aber man könnte dabei einfach mit den Schultern zucken und sich fragen, warum diese zweifellos malerische Stadt, die ja auch zur UNESCO-Weltkulturerbe gehört, die Hauptstadt Europas mit einer Viertelmillion Einwohnern sein soll. Aber andererseits – welche Wahl haben wir schon?

Das pittoreske Luxemburg, das halb so groß ist? Oder die nicht besonders hervorragende belgische Stadt Brüssel mit 176 000 Einwohnern, die Hauptstadt eines Landes, das seit fünfzig Jahren fast vor Zerfall steht? Dann wahrscheinlich doch Straßburg, immerhin eine schöne deutsch-französische Stadt am Rheinufer. Es ist auch eine Stadt, wohin man von Deutschland aus mit der Straßenbahn fahren kann.

 Autor ist Redakteur der Tageszeitung Deník

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