Das Gestern wird nicht zurückkehren, sagt Tomáš Halík in der neuen Ausgabe des N&N Czech-German Bookmag

Wenn die Tschechische Republik seit Václav Havel einen international bekannten Intellektuellen hatte, dann den Priester und Philosophen Tomáš Halík. In einem Interview für die neue Ausgabe des tschechisch-deutschen Buchmagazins N&N, die am 11. November erscheint, reflektiert er darüber, was uns der Krieg in Europa zeigt und dass in Krisenzeiten “bedeutende kreative Kräfte und spirituelle Energie” erwachen.

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Der katholische Priester und Theologe Tomáš Halík (geb. 1948), Träger des Templeton-Preises, den er als Autorität für den interreligiösen Dialog erhielt, bezieht klare Positionen, auch aufgrund seiner Jahre im kulturellen und religiösen Dissens vor 1989. Ansehen genießt er ebenfalls in Deutschland. Im Jahr 2019 verlieh Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Herrn Tomáš Halík das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.

Einige konservative kirchliche Würdenträger, von Politikern ganz zu schweigen, dulden das nur mit Zähneknirschen. Mit dem tschechischen Kardinal gerät er nicht selten scharf aneinander, und selbst seine große Sympathie für Papst Franziskus hindert ihn nicht daran, dem Kirchenoberhaupt zu widersprechen. Zu einer Zeit, als die Regierung des ehemaligen tschechischen Premierministers Andrej Babiš, die dem prorussischen Präsidenten Milos Zeman hörig war, die Sicherheitsprobleme ignorierte und lediglich die Propaganda des Kremls nachplapperte, war er einer der wenigen einflußreichen Kritiker der abtrünnigen Politiker.    

Ebenso plädiert er jetzt für eine unmissverständliche Ablehnung der russischen Aggression. Wie er erklärt, würde ein Sieg Russlands im militärischen Konflikt in der Ukraine den Westen diskreditieren und Diktatoren auf der ganzen Welt ermutigen. Aber unser erster Feind sind Angst, Verzweiflung, Panik und Resignation, betont er. Gerade jetzt stehen uns erhebliche kreative Kräfte und mentale Energien zur Seite, die auf der Suche nach Auswegen aus Krisen wie der jetzigen geweckt werden. 

Die Solidarität breiter Teile der tschechischen Gesellschaft mit der überfallenen Ukraine hält offenbar an. Obwohl die Emotionen wie erwartet abgeflaut und die überwiesenen Gelder weniger geworden sind, gelingt es den Populisten nicht, die politische Forderung am Ende des Sommers zu ändern. Sind Sie davon überrascht?

Ich würde noch etwas warten, um die Haltung der tschechischen Gesellschaft zu beurteilen, da sie im Winter den schwierigsten Prüfungen der Solidarität ausgesetzt sein wird, wenn die wirtschaftlichen Folgen des Krieges viel deutlicher zutage treten werden und sowohl die russische Propaganda als auch die populistische Opposition diese zunehmend der proukrainischen und prowestlichen Regierung anlasten werden.

Die tägliche Konfrontation mit den Verbrechen der Besatzer scheint auch die Werte des pro-demokratischen Teils der Gesellschaft auf die Probe zu stellen. Die Nachricht, dass einige ihrer Täter ausgeschaltet wurden, bereitet uns Schadenfreude. Auf der einen Seite helfen wir den Opfern, auf der anderen Seite tanzen wir auf dem Grab der Propagandistin Dugina…

Aus psychohygienischen Gründen verbringe ich nicht viel Zeit in den sozialen Medien, und in meiner Umgebung habe ich noch niemanden erlebt, der „auf Duginas Grab getanzt hat“. Aber ich habe die Empörung vieler Menschen, auch großer Anhänger von Papst Franziskus, zur Kenntnis genommen – und in gewissem Maße geteilt -, als der Papst die Völkermord-Propagandistin unglücklicherweise und desinformiert ein „unschuldiges Mädchen“ nannte.

Bei vielen Gelegenheiten erwähnen Sie die verbale Aggression und die Desinformationen des Kremls, die die Diskussionen in den sozialen Medien überschwemmen. Wie sollen wir darauf reagieren, wenn wir ihre Provokationen auch nach Jahren nicht ignorieren können?

Die Hauptsache ist, dass in den öffentlichen Medien genügend solide Informationen angeboten und Fake-News dadurch indirekt widerlegt werden. Meiner Erfahrung nach ist es sinnlos, sich mit Desinformanten auseinanderzusetzen und sie zu überzeugen. Ein Teil von ihnen wird bezahlt und glaubt selbst nicht an das, was sie verbreiten, und der andere Teil ist nicht in der Lage oder nicht willens, kritisch zu denken und die Argumente der anderen Seite zu berücksichtigen.

Die jüngste Aggression Russlands hat den Westen gezwungen, seinen pragmatischen Ansatz gegenüber Russland zu überdenken. Haben Sie den deutschen Politikern geglaubt, die ihre anfängliche Zurückhaltung bei der Militärhilfe mit den angeblichen historischen Schwierigkeiten ihres Landes begründeten?

Leider spielte das wirtschaftliche Interesse an der Versorgung mit billigem russischen Öl die größte Rolle und überschattete die Notwendigkeit von Sicherheitsvorkehrungen und verantwortungsvollen politischen Entscheidungen. Die erwähnten moralisch-psychologischen Überlegungen spielten keine große Rolle.

Der katholische Priester und Theologe Tomáš Halík, Träger des Templeton-Preises. Foto: Ondřej Němec

Der Westen hat sich der Naivität schuldig gemacht, indem er die Gefahr, die vom Kreml ausgeht, unterschätzt hat und in vielerlei Hinsicht immer noch unterschätzt, so wie er einst Hitler lange unterschätzt hat. Putin lehnt sich ziemlich genau an die Taktik Hitlers an, die wir in unserem Land aus der Vorkriegszeit kennen. Auch Hitler besetzte zunächst Gebiete mit starken sprachlichen Minderheiten, und als der Westen schwieg, besetzte er das ganze Land, kam dann keine adäquate Antwort des Westens, überfiel er weitere Länder.

Russland befindet sich in einer moralischen, wirtschaftlichen und demografischen Krise, und Putin hat der russischen Gesellschaft nichts anderes zu bieten als die Vision eines erneuerten und ständig wachsenden Imperiums, das alle fürchten werden. Und er wird alle Mittel einsetzen, um dies zu erreichen; Vorstellungen von  „diplomatischen Lösungen“ und Kompromissen mit einer Macht, die keine Regeln anerkennt und nur die Sprache der Gewalt versteht, sind völlig illusorisch. Sollte Russland den militärischen Konflikt in der Ukraine für sich entscheiden, würde dies die totale Diskreditierung des Westens und die Ermutigung aller Diktatoren und Aggressoren auf dem gesamten Planeten bedeuten. Die zweite, entscheidende Front in diesem Krieg ist die öffentliche Meinung der russischen Gesellschaft, die der Informationsfreiheit beraubt ist und durch antiwestliche Propaganda intensiv massiert wird.

Für lange Zeit werden die Russen die Schuld an ihrer Misere, ihren toten Soldaten und ihrer Isolation allein dem Westen geben. Wenn ein erheblicher Prozentsatz der Russen erkennt, dass Putin der Schuldige ist, könnte sich die Situation ändern. Es gibt in Russland unbestreitbar Gruppen, die auf diesen Moment warten. Die Frage ist jedoch, welche Alternativen sie anbieten werden. So vertrat die bereits erwähnte Dugina den reinen Faschismus, der für Putin auch von „rechts“ eine gefährliche Bedrohung darstellen könnte.

Das Wichtigste zur Verbesserung der Lage ist die Stärkung der ukrainischen Abwehrkräfte und der demokratischen Opposition in Russland.

Das Drama in Osteuropa, dessen Folgen die ganze Welt betreffen, bringt – wie zuvor die Pandemie – eine Pause in den hitzigen Austausch über die neuen Anforderungen, die mit dem Verständnis sexueller Minderheiten verbunden sind. Warum ist dies ein so spannungsgeladener Konflikt und keine Debatte?

Ich habe nicht den Eindruck, dass die „Kulturkriege“ – insbesondere in Bezug auf Abtreibung, sexuelle Minderheiten und Geschlechterfragen – abflauen. Vielleicht werden sie in Zeiten von Pandemien und Kriegen von den aktuellen Katastrophennachrichten in den Medien nur ein wenig in den Hintergrund gerückt. An beiden Fronten dieser „Kulturkriege“ herrschen einseitige ideologische, emotionale und aggressive Positionen vor, die versuchen, die andere Seite zu entwürdigen und zum Schweigen zu bringen. Angst und Nervosität in einer Zeit der Bedrohung durch Infektionskrankheiten und der globalen Kriegsfolgen steigern die Aggression in allen Bereichen, auch in denen der Wertstreitigkeiten. 

Sie nennen sich selbst einen Mann der Hoffnung. Wo sehen Sie sie?

Hoffnung ist zu unterscheiden von „Optimismus“ im Sinn der Illusion, dass sich alles automatisch zum Guten wendet. Wir befinden uns in einem Krieg, der wahrscheinlich lange dauern wird und schwerwiegende globale Folgen hat und haben wird. Wir müssen lernen, in einer Welt zu leben, die sich von der unterscheidet, in der wir bis vor kurzem gelebt haben. Das erfordert große moralische und geistige Stärke und den Mut, die Lebensweise und die Werteordnung zu ändern. Der erste Feind, dem wir uns stellen müssen, ist die Angst, die Verzweiflung, die Panik, die Resignation. Ich sehe Hoffnung in der Tatsache, dass jede Krise auch eine Chance ist. Die Suche nach Lösungen kann erhebliche kreative Kräfte und mentale Energie wecken.

Dieser Artikel erschien in dem N&N Czech-German Bookmag. Die aktuelle Ausgabe können Sie hier bestellen: www.nnmagazine.cz/de/nn-bookmag-sommer-herbst-2022

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