Lebendige Kultur in Tschechien und in Deutschland: Wie verlief die Debatte über den großzügigen Staat und die hungrigen KünstlerInnen

Am Donnerstag, den 25. März fand unter der Schirmherrschaft vom Internationalen Dokumentarfilmfestival ELBE DOCK eine Online-Debatte mit dem Thema Lebendige Kultur in Tschechien und in Deutschland statt. An dieser Debatte nahmen Expertinnen und Experten sowie KünstlerInnen teil, die sich auf Kulturspezifika beider Länder und ihr gegenseitiges Funktionieren konzentrierten. Das vergangene Jahr zeigte nämlich, was passiert, wenn die komplizierte Wirtschaft der Künstlerwelt auf den Kopf gestellt wird. Von Galerien, Museen, Theatern, Kinos, Clubs und anderen Kulturzentren, die um den Großteil ihrer Gewinne kommen, bis hin zu Künstlerinnen und Künstlern, welche ihren Beruf ändern mussten, damit sie die Miete zahlen können. Wie setzten sich die deutsche und die tschechische Kultur mit der Pandemie auseinander? Und was erwartet sie in der Zukunft?

Die Einladung zur Debatte Lebendige Kultur in Tschechien und in Deutschland haben folgende Gäste angenommen: Danuše Siering, die Herausgeberin des zweisprachigen Magazins N&N, Simona Binko, eine im Tschechischen Zentrum in Berlin wirkende Kunsthistorikerin und der Musiker, Texter und Comickünstler Jakub König, welcher unter dem Pseudonym Kittchen bekannt ist. Die Debatte wurde von der Koordinatorin des  Internationalen Dokumentarfilmfestivals ELBE DOCK Zuzana Rubešová organisiert, die Moderation übernahm Filip Rambousek vom Tschechischen Rundfunk.

Die Menschen über Wasser halten

Während der sich wiederholenden Lockdowns zeigte sich mehr denn je die gegenseitige Abhängigkeit der öffentlichen und privaten Ressourcen für die Unterstützung der Kunst und der KünstlerInnen. Man startete eine Reihe von Aktivitäten, die ein einziges Ziel verfolgten – die Menschen, die Orte und die Kultur als solche über Wasser zu halten. Dort, wo der Staat nicht imstande war, mit der fortfahrenden Krise Schritt zu halten, kamen auf die Szene die KünstlerInnen selbst. Das beispiellose Jahr forderte (nicht nur) in die Künstlerwelt einen beispiellosen Erfindergeist und das Umleiten ihrer wesentlichen Ressourcen.

„In der Krise wird der Staat zum Krisenmanager und er ist gezwungen zu entscheiden, wem er Geld gibt und wem nicht. Zu den Kriterien gehören folgende Faktoren: wo wird die Unterstützung produktiv sein, wie viele Arbeitsplätze bleiben erhalten und ob und wann die Chance besteht, das Geld zurückzubekommen“, stellte in der Debatte Danuše Siering fest. Und warum befindet sich ihrer Meinung nach die Kultur nicht unter den primär unterstützten Bereichen? „Die Beiträge der Kultur in die Staatskasse sind minimal, sie kostet hingegen Geld“, ergänzt die Herausgeberin, welche im Prager Haus Černá labuť auch eine gleichnamige Galerie führt.

Großzügiges Deutschland und hungrige Tschechen

Und wie sieht laut den Gästen die Kulturwelt auf beiden Seiten der deutsch-tschechischen Grenze aus und wie wird sie nach dem Ende der globalen Krise aussehen? Die Kultur in Deutschland wird aus 80 % vom Staat unterstützt, nur 20 % der Finanzmittel kommen von privaten Subjekten. Der Staat möchte keinen höheren Anteil an privaten Finanzen ermöglichen, damit es nicht zu einer Entwertung der Kultur kommt. Diese wäre dann nicht durch Qualität geleitet, sondern durch den Geschmack des Publikums, wie es z. B. in den USA ist.

Der Staat unterstützte in Deutschland im Sommer vorigen Jahres den Kulturbereich mit einer Summe von 1 Milliarde Euro im Rahmen des Programms Neustart Kultur. Im Februar 2021 wurde die Unterstützung um eine weitere Milliarde Euro aufgestockt, welche für alle kreative Betätigungsfelder vorgesehen war. „In der Tschechischen Republik zeigte sich hingegen, dass die Regierung die Kultur nicht so sehr interessiert. Der Präsident Zeman sagte, die KünstlerInnen würden dann am besten schaffen, wenn sie hungrig sind. Und vielleicht existiert auch deshalb kein komplexes Programm für die Unterstützung der Kultur. Andererseits kam die Regierung mit einigen Ausgleichsbonussen, die vielen wirklich geholfen haben und über die ich mich persönlich freue. Aber auch so wurde die Kulturszene hart getroffen und es besteht die Frage, wer überleben wird“, ergänzt Jakub König.

Kultur online

In den schwierigen Verhältnissen müssen sich die KünstlerInnen, GaleristInnen, VeranstalterInnen und KuratorInnen neue Weisen ausdenken, wie sie die Kunst im Gange halten. In der Praxis handelt es sich um eine Improvisation, bei der die Online-Plattformen die physische Anwesenheit ersetzten. Es geht jedoch nicht nur um eine Verbindung von Online- und Offline-Strukturen, sondern um eine Veränderung der Art, wie Sachen funktionieren.

„Für uns im Tschechischen Zentrum in Berlin bedeutete die Pandemie im letzten Jahr eine radikale Veränderung in der Hinsicht, wie wir über das Programm nachdenken. Unsere Aufgabe ist ja die tschechische Kultur nach Deutschland zu bringen“, sagt Simona Binko als Vertreterin des Tschechischen Zentrums in Berlin. „Vor der Pandemie profitierten wir sehr von der geringen Entfernung zwischen der Tschechischen Republik und Berlin. Unser Programm setzte sich großenteils aus Live-Veranstaltungen mit Gästen aus der Tschechischen Republik zusammen. Im letzten Jahr entwickelten wir deshalb einige Formate, mit denen wir versuchen, die tschechische Kultur auch in der Pandemie zu verbreiten, nur eben auf anderen Wegen. Wir fingen z. B. an, noch intensiver mit Menschen zusammenzuarbeiten, die im Kulturbereich tätig sind und in Deutschland oder an der deutsch-tschechischen Grenze leben und schaffen.“

Gerade in Berlin kann man laut der Kunsthistorikerin viele verschiedene Projekte beobachten, die in letzter Zeit entstanden sind und in der digitalen Welt sehr gut funktionieren. „Kulturelle Veranstaltungen im digitalen Raum werden sicher nie die lebendigen ganz ersetzen. Meines Erachtens war es aber an der Zeit, viele Formate zu testen, und viele von ihnen bleiben nicht nur bei uns ein fester Bestandteil des Programms. So wird es dann auch in Zukunft z. B. möglich sein, während der Mittagspause eine Ausstellung in New York zu besuchen oder sich eine interessante Debatte in Prag anzuhören, ohne dass wir den eigenen Arbeitstisch, in meinem Fall den in Berlin, verlassen müssten“, fügt Simona Binko hinzu.

Unabhängig von Behörden

Die meisten Kulturbranchen, egal ob Musik, Film, Theater oder bildende Kunst, scheinen auf den ersten Blick hierarchisch strukturiert zu sein. Im Jahr 2020 rückte in den Vordergrund die Idee einer Verbindung und Zusammenarbeit, die sich in den Künstlergruppen und auf den Künstlerszenen weit verbreitete. Künstlerkollektive haben damit begonnen, ihre eigenen Netzwerke zu bilden – nicht nur für sich selbst, sondern auch für breitere Communitys, deren Teil sie sind. Es fand auch eine Reihe großer gemeinsamer Präsentationen statt, die von staatlichen und örtlichen Institutionen unabhängig waren.

„In Berlin entstand so z. B. zur Unterstützung der berühmten Clubszene die private Initiative UnitedWeStream, die schon im März vorigen Jahres mit einer Live-Sendung aus dem legendären Club Watergate startete. Seitdem lockte die Plattform mehr als 150 Millionen BesucherInnen an, es traten dort über 2 000 KünstlerInnen aus hundert Städten aus der ganzen Welt auf und es wurden Spenden in einer Höhe von 1,5 Millionen Euro gesammelt, die unter die Berliner Clubs aufgeteilt werden, damit sie überleben“, ergänzt Danuše Siering.

Es zeigte sich, dass es geht

Die Kunst ist der älteste gemeinsame Nenner, den wir haben. Sie ist so alt wie die Menschheit. Wo keine Kultur ist, ist keine Menschlichkeit. Die unglücklichen Umstände der letzten Monate brachten mit sich jedoch auch einige positive Dinge. „Wir mussten die eingefahrenen Gleise verlassen, blickten auf die Sachen aus einer neuen Perspektive und probierten neue Formate aus. Auch wenn wir es kaum erwarten können, unsere Räumlichkeiten wieder ganz dem Publikum öffnen zu können, zeigen die Erfahrungen aus dem letzten Jahr, dass digitale Formate es ermöglichen, örtliche und zeitliche Grenzen mit unerwarteter Leichtigkeit zu überschreiten“, sagt über die Folgen der Pandemie Simona Binko.

Jakub König stimmt ihr zu: „Die Künstler schaffen, auch wenn sie Hunger haben. Auch wenn sie sich nicht persönlich treffen können. Im letzten Jahr entstand eine große Menge an neuer Musik, Literatur, bildender und visueller Kunst, einfach alles. Und dieses Jahr beobachtet man das Gleiche. Es reicht, dass man sich umschaut, wie es sprießt, ausschlägt, nach außen dringt. Und von der anderen Seite vom Publikum kommt es zurück. Als ob uns auf einmal unter Druck bewusst geworden wäre, was alles uns die Kunst bietet. Eine Erleichterung in schweren Zeiten sowie einen riesigen Raum für geteilte Freude. Einen Tiefen Raum für die innerliche Kommunikation. Auch Momente der stillen Freude, in denen wir erfahren, wer wir sind.“

Die ganze Debatte Lebendige Kultur in Tschechien und in Deutschland können Sie sich als Aufzeichnung ansehen. Parallel zur Debatte hatten die Zuschauer die Möglichkeit, sich die deutsch-tschechischen Kurzfilme aus dem Programm FEINKOŠT 2020 anzusehen, das acht Spiel- und Zeichentrickfilme der neuen Generation von Dokumentaristinnen und Dokumentaristen vorstellt, welche auf tschechischen sowie internationalen Filmfestivals Preise gewannen. Übrigens – auch diese Debatte mit dem Minifestival zeigen, dass man mit der „Online-Kultur“ auch in schweren Zeiten überleben kann.

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