Mit der neuen Regierung wird die Tschechische Republik für Deutschland zum interessantesten Land in Mitteleuropa

Zwei Wochen nacheinander fanden sowohl in Deutschland als auch in der Tschechischen Republik Wahlen statt, die die Richtung des Landes veränderten und in beiden Fällen überraschende und eigentlich unwahrscheinliche Gewinner hatten. Mit einem Ergebnis, das in beiden Ländern die bisher politisch und zahlenmäßig komplexesten Regierungen seit vielen Jahren an die Macht bringt.

Die Vertreter der demokratischen Parteien und bereits zwei Koalitionen bei der Unterzeichnung eines gemeinsamen Koalitionsabkommen anfang November. Foto: FB Petr Fiala

Wenn man sich die Landkarte und die wirtschaftliche Realität ansieht, stellt sich die Frage, wie diese beiden Regierungen zusammenarbeiten können. Ob sich die Tschechische Republik in den kommenden Jahren von ihrer Position als „uninteressantester Nachbar“ Deutschlands lösen kann. Und, auch durch eine engere Zusammenarbeit mit Deutschland und Österreich, aus der Gruppe der sich seltsam entwickelnden Visegrad-Länder mit autoritären Regimen in Polen und Ungarn und chaotischen populistischen Regierungen in der Slowakei ausbrechen.

Die Regierungsparteien kennen sich nicht

Auf den ersten Blick scheinen die beiden entstehenden Regierungskoalitionen politisch inkompatibel. An der Spitze der neuen Bundesregierung steht der sozialdemokratische Bundeskanzler und ehemalige Finanzminister Olaf Scholz, dem die SPD ihre wundersame Wiederauferstehung und ihren sensationellen und unerwarteten Sieg bei der Bundestagswahl verdankt. Unerwartet auch deshalb, weil die SPD acht Jahre lang Juniorpartner in einer großen Koalition mit der CDU/CSU von Bundeskanzlerin Angela Merkel war. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die tschechischen Sozialdemokraten (ČSSD), die sich als Juniorpartner in der Regierung von Andrej Babiš und seiner ANO-Bewegung in einer ähnlichen Position befanden, bei den tschechischen Wahlen völlig versagt haben und zum ersten Mal seit November 1989 nicht mehr im Parlament vertreten sind.

Die neue tschechische Regierung wird von Professor Petr Fiala geleitet, dem Vorsitzenden der rechtsgerichteten Demokratischen Bürgerpartei, die in der Vergangenheit, bis zum Aufstieg der ANO von Babiš, als wichtigster politischer Rivale der Sozialdemokraten galt.

Auch in der europäischen Politik haben die Bürgerdemokraten noch immer mit dem Erbe ihres Gründers, des zweimaligen Ministerpräsidenten und zweimaligen tschechischen Präsidenten Václav Klaus, zu kämpfen. Im Europäischen Parlament stehen sie außerhalb des Mainstreams und gehören zur Gruppe der Euroskeptiker, die nach dem Ausscheiden der britischen Konservativen zunehmend von der EU-feindlichen polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) dominiert wird. Der zunehmend extremistisch orientierte Klaus hat übrigens mit der ODS in der Tschechischen Republik gebrochen und ist in der Vergangenheit als Redner bei Kundgebungen der Alternative für Deutschland (AfD) in Deutschland aufgetreten.

Doch die Unvereinbarkeit der tschechischen und der deutschen Regierung ist damit noch nicht beendet. Auch die beiden anderen deutschen Regierungsparteien, die Grünen und die Freien Demokraten (FDP), haben keine Partner in der heutigen tschechischen Regierung. Die tschechischen Grünen kamen bei den tschechischen Wahlen im Oktober nicht über die 1,5-Prozent-Marke hinaus, und die tschechischen Piraten, die zahlenmäßig kleinste der neuen Regierungsparteien, können nur als ihr Ersatz betrachtet werden. Obwohl sie mit den deutschen Grünen in der gleichen Fraktion im Europäischen Parlament sitzen, unterstützen sie zum Beispiel ganz offen die Kernenergie als Grundlage des „tschechischen Weges“ zur Begrenzung der Treibhausgasproduktion und der Kohlenstoffneutralität. Und das in einer Situation, in der Deutschland seine Kernkraftwerke in den nächsten Jahren abschalten wird. 

Noch pikanter ist es bei der FDP. Die deutschen Liberalen gehören nämlich der Fraktion Renew an und sind im Europäischen Parlament Partner der derzeit populistisch-linken Partei ANO von Babiš. Und das, obwohl sie im tschechischen politischen Spektrum der ODS von Fiala sehr nahe stehen würden, insbesondere in wirtschaftlichen Fragen. Derzeit gibt es jedoch keinerlei Kontakte zwischen Funktionären beider Parteien. Die anderen drei Parteien der tschechischen Regierungskoalition, die Bürgermeister und Unabhängigen, die Volkspartei und die christliche Rechte von TOP 09 ist Teil der Europäischen Volkspartei. Allerdings ist nur die Volkspartei enger mit der deutschen CDU/CSU verbunden.

Gemeinsame demokratische Basis

Wenn wir uns die Programme beider Koalitionen ansehen, finden wir jedoch eine grundlegende Gemeinsamkeit, nämlich den Wunsch, die Modernisierung beider Länder zu beschleunigen. In Deutschland soll sie durch die grüne Transformation vorangetrieben werden, in Tschechien durch die Modernisierung der Infrastruktur und des Funktionierens des Staates, der durch die grüne Transformation nicht überlastet werden soll. Das sind aber nur unterschiedliche Akzente, die Richtung ist im Grunde gleich. 

Ähnlich is es sich auch in sozialen Fragen, z. B. bei der Änderung des Rentensystems, der Betonung der Haushaltsverantwortung oder – überraschenderweise – beim Bau neuer Wohnungen. Beiden Regierungen gemeinsam ist auch die Ausweitung des Wahlrechts – in Deutschland durch das Wahlrecht ab 16 Jahren, in der Tschechischen Republik durch die Möglichkeit der Briefwahl aus dem Ausland.

Natürlich gibt es auch viele Unterschiede in den Programmen der beiden Koalitionen. Das neue tschechische Kabinett will die Verteidigungsausgaben in nicht allzu ferner Zukunft auf 2 Prozent des BIP erhöhen, es will keine großen Schritte in Richtung Euro-Einführung unternehmen und es ist sicherlich nicht mehrheitlich begeistert von der euroföderalistischen Richtung der EU-Entwicklung, die das neue Bundeskabinett fördern will.

Was mir jedoch in der heutigen mitteleuropäischen Konstellation am wichtigsten erscheint, ist die volle Demokratie der neuen tschechischen Regierung, das Bemühen, die Deformationen nach acht Jahren der faktischen Dominanz des Oligarchen Andrej Babiš in der tschechischen Politik zu beseitigen, und die klare euro-atlantische Ausrichtung des neuen Kabinetts in Prag. Und auch die Akzeptanz dessen, dass das EU-Green-Deal eine Tatsache und ein Ziel ist, die auch die Tschechische Republik erfüllen will. 

Allein dadurch unterscheidet sich die Tschechische Republik von der heutigen mitteleuropäischen Konstellation. Sie kann daher vielleicht das interessanteste Land für Deutschland, zumindest in Mitteleuropa, werden.

Der Autor ist der EU-Redakteur von der Tageszeitung „Deník“  

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