Tschechen verstehen nicht, dass Deutschland ein “Energielabor” ist

“Es ist Unsinn, dass Deutschland wegen seiner Energiewende-Strategie in den Abgrund stürzt, wie hier oft zu hören ist. Dank der erneuerbaren Energiequellen werden die Strompreise dort auch in 15 Jahren ähnlich den heutigen Preisen sein. Aber wenn ich Berater der deutschen Regierung wäre, würde ich zugeben, dass wir bei den Atomkraftwerken und beim Erdgas einen Fehler gemacht haben”, so der ehemalige Berliner Korrespondent des Tschechischen Fernsehens Martin Jonáš.

🇨🇿 Tento článek si můžete přečíst i v češtině: Češi nechápou, že Německo je “energetická laboratoř”

Wir sprachen mit Martin Jonáš, einem ehemaligen langjährigen Korrespondenten des Tschechischen Fernsehens in Berlin, über die Perspektiven der deutschen Strategie der Energiewende. Das Interview fand im Rahmen der Konferenz New CZ-DEal zum Thema Die Zukunft des Energiesektors und die neue wirtschaftliche Realität – Tschechisch-deutsche Zusammenarbeit 2022 statt, die von Black Swan Media mit Unterstützung des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland organisiert wurde. 

Sie berichteten mehrere Jahre über das Geschehen in Deutschland. Welchen Stellenwert hat Energie in der deutschen Berichterstattung? 

Energie war in meiner Berichterstattung Thema Nummer eins, und der Grund dafür ist ganz einfach – wenn es keine Eilmeldung gibt, ist Energie auch in Deutschland das wichtigste Thema in der Berichterstattung. Wenn man den Anteil der Artikel und Beiträge zu diversen Themen in Deutschland zählen würde, wage ich zu behaupten, dass mittelfristig das Thema Energie alles andere übertrumpfen würde. 

Warum leben die Menschen in Deutschland eigentlich so viel intensiver mit Energie als die tschechische Bevölkerung?

Das liegt daran, dass Deutschland nicht nur eine große Volkswirtschaft ist, sondern auch ein riesiges Energielabor. Unter dem Druck dessen, was wir  auch im Tschechischen bereits Energiewende nennen, werden dort alle möglichen Lösungen ausprobiert. Was ist das eigentlich? Es ist der Versuch einer Energietransformation in einer massiv industrialisierten mitteleuropäischen Wirtschaft. Sie probieren alles aus, von bewährten Lösungen bis hin zu seltsamen Experimenten. Im Hamburger Hafen zum Beispiel hat man einen riesigen Stein aus Kieselsteinen gebaut, der sich in Zeiten des Energieüberschusses durch Föhn (warme Südwinde) aufheizt und in Zeiten des Netzmangels durch Wasser gekühlt wird, so dass zumindest ein Teil des Überschusses erhalten bleibt. Der Wirkungsgrad liegt bei etwa 15 Prozent. Mit diesen manchmal bizarren Methoden versucht Deutschland, die Barrieren seiner Energiewende zu durchbrechen. 

Wissen die Deutschen, dass die Energiewende hierzulande als beängstigender Irrtum dargestellt wird?

Wahrscheinlich nicht, aber wäre ich Berater des Bundesaußenministers, würde ich sicher darüber nachdenken. In den Augen der tschechischen Öffentlichkeit wird Deutschland immer wieder als Land wahrgenommen, das die Existenz der tschechischen Nation bedroht. Den Boden dafür haben wir durch die Propaganda der letzten Jahrzehnte gut vorbereitet. Das letzte Mal war dies 2015 beim Thema Migration der Fall, und jetzt wird die Energiewende für einen erheblichen Teil der tschechischen Öffentlichkeit, den ich soziologisch nicht genau erfasst habe, zu einem bedrohlichen Thema. Man denke nur an Alexander Vondra und Karel Havlíček, zwei wichtige Akteure in den stärksten politischen Parteien. Ich habe den Eindruck, dass sie in letzter Zeit keine einzige zusammenhängende Rede zum Thema Sicherheit gehalten haben, ohne dass die Energiewende als Bedrohung für den tschechischen Energiesektor erwähnt wurde. Wäre ich Bundesberater, müsste ich gehörig nachsinnen, warum dies in den tschechischen Medien so erschreckend dargestellt wird. 

Wie würden Sie der tschechischen Öffentlichkeit erklären, dass es sich bei der Energiewende nicht um eine chaotische und naive Initiative handelt, sondern um ein Konzept, das schon seit Jahrzehnten besteht, dass Deutschland etwas Konkretes zu bieten hat und von dem wir uns inspirieren lassen können?

Das haben Sie sehr treffend gesagt, die Energiewende wird hierzulande als ideologisch getriebene und von Menschen programmierte Katastrophe wahrgenommen und oft als Beispiel für unangemessenes Social Engineering angeführt. Zunächst einmal sollte ich darauf hinweisen, dass die Deutschen es nicht als Rezept für die ganze Welt betrachten. Einer der wichtigsten Punkte für eine erfolgreichere Kommunikationsstrategie im Ausland wäre es außerdem, Farbe zu bekennen und zuzugeben, dass einige der Entscheidungen der letzten zwanzig Jahre selbst für die Deutschen zumindest fragwürdig sind. Ich meine damit natürlich den Ausstieg aus der Kernenergie und die Abhängigkeit von Erdgas. Ich müsste die deutsche Botschaft in der Tschechischen Republik anweisen, die pragmatischen Aspekte dieses Modells zu betonen, die in ihm nicht so schwer zu finden sind. Die Tschechen sind sich ihrer meist überhaupt nicht bewusst. 

An welche denken Sie?

Ich meine die Revolution, die in den letzten zehn Jahren stattgefunden hat, d.h.  die Entwicklung des Produktionspreises für Strom aus erneuerbaren Energiequellen. Es ist bemerkenswert, dass dies in der Tschechischen Republik kaum jemandem aufgefallen ist. Selbst unter mitteleuropäischen Bedingungen ist die billigste Stromquelle heute eine große Solaranlage gefolgt von  Windkraftanlagen. Und das selbst dann, wenn wir die Kosten der Emissionszertifikate für fossile Kraftwerke nicht berücksichtigen würden. Die andere Seite der Medaille ist die, dass das ganze System etwas gekostet hat, die Vergleiche basieren auf Messungen unter idealen Bedingungen und berücksichtigen nicht den Preis der Akkumulation und einige weitere Kosten. Unterm Strich ist die Solarstromerzeugung in den letzten zehn Jahren jedoch um 90 Prozent billiger geworden. 

Dies sind jedoch ganz andere Einstiegsbedingungen als die, die während des letzten Solarbooms am Ende des ersten Jahrzehnts herrschten. 

Das wollte ich sagen. Vielleicht ist es nicht so wichtig, wie viel es kostet, denn die Energiewende muss als System funktionieren, aber ich halte es für verwerflich, diesem Trend, der nicht enden wird, nicht zu folgen. Die Produktionspreise für Solarenergie werden weiter sinken, einigen Analysen zufolge sogar mit gleicher Geschwindigkeit. In zehn Jahren könnten wir wieder bei einem Bruchteil davon angelangt sein, und zwar in einem neuen Maßstab. Vielleicht wird das nicht der Fall sein, vielleicht werden es nur fünfzig Prozent sein, aber der Systemwandel bleibt trotzdem groß. 

Im Gegensatz zu uns tragen die Deutschen dieser Entwicklung einfach Rechnung. 

Und es ist die tschechische Öffentlichkeit, die nicht begreift, dass die deutsche Regierung sich nicht wie ein durchgeknallter Aktivist verhält, der irgendwo auf dem Bürgersteig klebt oder Gemälde begießt, sondern ganz im Gegenteil, dass sie sich auf Konzepte der Energieentwicklung stützt, die dem Endverbraucher zugutekommen. Als Informationsbeauftragter der Berliner Regierung würde ich mich beispielsweise auf die Berechnungen  der Universitäten in München und in Regensburg fokussieren, wonach der Strompreis in 10 oder 15 Jahren nicht wirklich erschreckend sein wird. Man kann ihre Vorhersagen in Frage stellen, aber die Autoren dieser Modelle haben Werte ermittelt, die sich nicht allzu sehr von den Strompreisen vor Beginn der derzeitigen Energiekrise unterscheiden. 

Am allerwenigsten jedoch versteht die tschechische Öffentlichkeit, weshalb die Deutschen mitten in der Krise die letzten Kernkraftwerke abschalten.

Ja, ich muss noch einmal sagen, sie sollten Farbe bekennen, denn dieses Vorgehen wird, ich wage es zu sagen, gegenwärtig selbst von der deutschen Öffentlichkeit in Frage gestellt. Letztere hat sich von ihrem Hass auf die Kernenergie erst nach vollendeter Tat geheilt, und wenn wir uns die Meinungsumfragen ansehen, würde die Mehrheit der Deutschen heute auch die Kernenergie im Energiemix begrüßen. Auf Grund der Entscheidung, die eher von politischen als von technischen Realitäten diktiert wurde, ist es jedoch zu spät. 

Die Deutschen setzen signifikant auf die Forschung rund um die Nutzung von Wasserstoff. Inwieweit beeinflusst er die Energiewende?

Der zukünftige Energiemix Deutschlands ist ohne Wasserstoff kaum denkbar, sofern die Deutschen an ihrem ehrgeizigen Plan, schnell aus der Kohle auszusteigen, festhalten. Die derzeitige Koalition plant den Ausstieg aus der Kohleverstromung um das Jahr 2030; der genaue Zeitpunkt wurde noch nicht festgelegt. In Anbetracht dessen, was jetzt in der Welt geschieht, wage ich zu behaupten, dass das Jahr 2036, von dem ebenfalls die Rede war, realistischer erscheint. Der Plan sieht im Wesentlichen jedoch ein auf zwei Sektoren basierendes Energiesystem vor. Ein Sektor sind die erneuerbaren Energiequellen mit sehr niedrigen Produktionspreisen. Manche Leute nennen sie “intermittierte Quellen”, was ein wenig abwertend klingt, aber wir alle wissen, dass sie nicht 24 Stunden am Tag funktionieren. Neben diesem sehr billigen, aber unbeständigen Energiesektor gibt es einen zweiten Sektor, der hingegen jederzeit auf Abruf zur Verfügung steht und ziemlich teuer ist. Dieser zuverlässige und teure Sektor wird weitgehend durch Wasserstoff abgedeckt. Zusammen werden diese beiden Sektoren den deutschen Energiesektor nach der Energiewende ausmachen. Es ist natürlich eine Frage, wie viel von diesem Wasserstoff grün sein wird, wie viel “grau” und so weiter, aber das sind schon Details. 

Wie werden wir von den Deutschen wahrgenommen? Halten sie uns nicht irgendwie für Hinterwäldler, wenn sie die Stimmen von Leuten wie Vondra oder Havlíček hören?

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Deutschland dieser Seite viel Aufmerksamkeit schenkt. Wenn man die deutschen Medien verfolgt, ließe sich das Wort “Tschechische Republik” nur mit der Lupe finden, es taucht nur ein paar Mal im Jahr auf. Die deutschen Wähler schauen nicht auf uns, also stören wir die deutschen Politiker nicht. Wenn die Deutschen generell jemanden als Unruhestifter sehen, dann ist es Polen, und zwar in einer Reihe von Bereichen und auch im Energiesektor. Hier möchte ich kurz abschweifen, denn es geht um einen sehr gefährlichen Trend. Die polnische Regierung hat ihn bereitwillig aufgegriffen, und die Leute um Ministerpräsident Mateusz Morawiecki geben recht offen zu, dass es ihnen ganz gelegen kommt, Deutschland wieder als Feind zu sehen. Polen hat sich entschlossen, im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise eine zentrale Rolle in Mitteleuropa zu spielen, und will diese Rolle spielen, indem es sich aktiv gegen Deutschland stellt, was auch auf dem informellen EU-Gipfel in Prag deutlich wurde. Und Energie ist eben ein Teil dieses unglücklichen polnischen Plans.

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