Deutsche Spuren in der tschechischen Musik

Inwieweit ist die tschechische Kultur mit der deutschen Kultur verbunden? Und warum ist es sinnvoll, im Jahr der tschechischen Musik auf diese untrennbare Verbindung hinzuweisen? Lesen Sie mehr im Beitrag von Iva Nevoralová.

🇨🇿 Tento článek si můžete přečíst i v češtině: Německé stopy v české hudbě

Im April dieses Jahres endete der vierjährige Zyklus Musica non grata des Nationaltheaters, dessen Hauptziel es war, das Interesse an den Werken von Komponisten wiederzubeleben, die in den 1930er und 1940er Jahren vom Nazi-Regime verfolgt wurden.

Eine Reihe dieser überwiegend jüdischen Komponisten übte ihre schöpferische Kraft auf den Bühnen des Neuen Deutschen Theaters und des Nationaltheaters in Prag aus und wurde zum Kern der tschechisch-deutschen Künstlergemeinschaft, die das kulturelle Umfeld der ersten Tschechoslowakischen Republik prägte. Das Projekt Musica non grata fokussierte sich in erster Linie auf die außergewöhnlich hochwertige und schöne Musik, die diese Komponisten hinterließen. Es eröffnete aber auch automatisch das Thema des Zusammenlebens von Tschechen und Deutschen auf unserem Territorium, das jahrelang ein Tabu war.

Einfüsse der Kirchenmusik

Die tschechisch-deutschen Musikbeziehungen reichen bis ins 9. Jahrhundert zurück. Die ersten greifbaren Belege für die Pflege der Musik in Böhmen sind mit der zweiten Missionswelle verbunden, die von deutschen Klöstern ausging, die den christlichen Glauben mitbrachten und Gottesdienstrituale einführten, die vom Gregorianischen Choral begleitet wurden. Der Ursprung des ersten bekannten tschechischen geistlichen Liedes, Hospodine pomiluj ny (Herr, erbarme Dich unser) geht auf die Wende des 10. zum 11. Jahrhundert zurück. Aus dem 12. Jahrhundert stammt die „Hymne“ des tschechischen Mittelalters – das Lied Svatý Václave, vévodo české země (Heiliger Wenzel, Herzog des böhmischen Landes), eine beliebte Melodie vieler tschechischer Autoren des 20. Jahrhunderts – Josef Suk, Vítězslav Novák, Pavel Haas und Petr Eben. 

Die Zeit des relativen Friedens und Wohlstands unter Karl IV. wurde zu Beginn des 15. Jahrhunderts von der unruhigen Hussitenzeit abgelöst, als die Tschechen zum ersten und für lange Zeit letzten Mal die europäische Geschichte neu schrieben. Ob wir nun mit Bewunderung auf diese Epoche der tschechischen Geschichte zurückblicken oder eher ihre zerstörerischen Folgen wahrnehmen, wir verdanken ihr die Einführung der tschechischen Sprache in religiöse Zeremonien. Die Lieder Ktož jsú bojovníci (Wer sind Gottes Krieger) und Povstaň, povstaň, veliké město pražské (Erhebe dich, erhebe dich, du große Stadt Prag) sind für immer zu einem Symbol des tschechischen Patriotismus und der Durchsetzung der tschechischen Nationalidee geworden. Von der zweiten Hälfte des 15. bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts hatten die utraquistische Kirche und die sog. Literarischen Bruderschaften grundlegenden Einfluss auf die Entwicklung des Musikwesens in Böhmen. Die nach dem Prinzip der Zünfte organisierten Bruderschaften verfügten oft über ein beträchtliches Vermögen, das es ihnen ermöglichte, die Chöre nicht nur mit Musikinstrumenten auszustatten, sondern auch neue Kompositionen in Auftrag zu geben, insbesondere bei tschechischen Komponisten. So entstanden zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Reihe von finanziell aufwendigen und künstlerisch erzählenden Kodizes oder Gesangbüchern (Sammlungen geistlicher Lieder).

Ein kurzer historischer Exkurs sollte nicht die Einheit der Brüder und ihre beiden herausragenden Vertreter aussparen: Jan Amos Komenský und Jan Blahoslav,  Autor des ersten gedruckten Traktats über die Methoden des Musikunterrichts in unserem Land. Die musikalische Entwicklung des 16. Jahrhunderts wurde dann durch das Werk tschechischer Gelehrter gekrönt, vor allem durch Kryštof Harant z Polžic a Bezdružic (Christoph Wilhelm Freiherr Harant von Polschitz und Weseritz), der nach der Schlacht am Weißen Berg wegen seiner Teilnahme am Ständeaufstand auf dem Altstädter Ring enthauptet wurde. 

Ganze siebenhundert Jahre waren geprägt von politischen Auseinandersetzungen oder Macht- und Religionskämpfen zwischen Slawen und Franken, Tschechen und Deutschen, Protestanten und Katholiken. Aber es war diese Hinrichtung von siebenundzwanzig böhmischen Herren, ein blutiger Akt der habsburgischen Vergeltung, den viele Tschechen noch immer als den Wendepunkt sehen, der das problematische Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen auf unserem Territorium endgültig entfachte. 

Doch jede Münze hat zwei Seiten, und so brachte auch die Rekatholisierung, unterstützt durch die gezielte Musikerziehung seitens der Jesuiten und Piaristen, eine beispiellose Entwicklung des Musikwesens in den böhmischen Ländern im 18. Jahrhundert. In diese Zeit fällt auch der Ausspruch des englischen Musikhistorikers Charles Burney, Böhmen sei das „Konservatorium Europas“. Aktive Musikkenntnisse waren nicht nur gesellschaftlich hoch geschätzt, sondern oft sogar eine Voraussetzung für das Erlernen eines Berufs. Zu dieser Zeit erlebte Europa zum ersten Mal die schöpferische Kraft von Komponisten, die im Herzen Europas geboren wurden: Josef Mysliveček, Jan Václav Stamitz (Johann Wenzel Stamitz), Antonín Rejcha oder die Brüder Jiří Antonín (Georg Anton Benda) und František Benda (Franz Benda). Hinter ihrer Abwanderung in europäische Musikzentren wie Paris, Berlin, Mannheim, Wien oder Venedig sollten wir jedoch wieder ganz prosaische Gründe suchen: bessere finanzielle, kreative und oft auch soziale Bedingungen als in Böhmen. Dieses Umfeld brachte die Persönlichkeiten der nationalen Wiedergeburt hervor, vor allem Josef Jungmann, Josef Dobrovský und František Palacký, die ihre Ideen nicht auf Tschechisch, sondern aus praktischen Gründen auf Deutsch formulierten. Erinnern wir uns an die beiden Hauptwerke von Josef Dobrovsky, Geschichte der böhmischen Sprache und Literatur und Ausführliches Lehrgebäude der böhmischen Sprache, oder an František Palackýs Geschichte des tschechischen Volkes in Böhmen und Mähren. 

Mozart, Wagner und Brahms

Auch die tschechische Musik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde von deutschen Vorbildern – Wolfgang Amadeus Mozart, Richard Wagner oder Johannes Brahms – beeinflusst, an die Bedřich Smetana, Antonín Dvořák und der in Tschechien geborene Deutsche Gustav Mahler anschlossen und auf den eine ganze Generation tschechisch-deutscher Komponisten der Zwischenkriegsavantgarde folgte: Erich Wolfgang Korngold, Erwin Schulhoff, Hans Krása, Viktor Ullmann (geboren im polnischen Teil von Český Těšín), Jaromír Weinberger, Pavel Haas und Gideon Klein. Auch viele andere musikalische Ikonen des 20. Jahrhunderts sind mit dem tschechoslowakischen Umfeld verbunden, wie Arnold Schönberg, dessen Mutter aus Prag stammte, oder Alexander Zemlinsky, der sechzehn Jahre lang als Operndirektor am Neuen Deutschen Theater in Prag tätig war und hier 1930 die in Prag geborene Louisa Sachsel heiratete. 

Die Zusammenarbeit von tschechischen und deutschen Künstlern in der Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik ist ein Paradebeispiel für gegenseitigen Respekt und eine dynamische Verbindung zweier Kulturen, die sich gegenseitig bereichern und helfen konnten, die wirtschaftlichen und dann politischen Schwierigkeiten der 1920er und 1930er Jahre zu überwinden, wenn man von Vorfällen wie der erzwungenen Besetzung des Ständetheaters durch tschechische Künstler im Jahr 1920 absieht, die selbst von Tomáš G. Masaryk verurteilt wurde. Unbedingt erwähnenswert ist die Persönlichkeit Max Brod als Vermittler zwischen dem tschechischen und dem deutschen Künstlermilieu, der nicht nur die literarischen Werke von Franz Kafka und die Opern von Leoš Janáček entdeckte, sondern z. B. auch die Zusammenarbeit von Erwin Schulhoff mit Karel Josef Beneš (die Oper Flammen) oder den Welterfolg der deutschen Fassung von Jaromír Weinbergers Oper Švanda dudák (Schwanda, der Dudelsackpfeifer) ermöglichte. Erinnern wir uns an die dreiunddreißig Konzerte des Österreichers Alexander Zemlinsky mit der Tschechischen Philharmonie auf Einladung des tschechischen Dirigenten Václav Talich oder an Zemlinskys Bewunderung für Josef Suk. 

Zufluchtsort Prag

In den dunkelsten Zeiten nach der Machtergreifung Adolf Hitlers gelang es tschechischen und deutschen Künstlern, sich zusammenzuschließen und Prag zu einem wichtigen Zufluchtsort für jüdische Künstler zu machen, die aus dem besetzten Europa flohen. Das Neue Deutsche Theater spielte in dieser historischen Episode eine Schlüsselrolle, bevor es im September 1938, kurz vor der Unterzeichnung des Münchner Abkommens, endgültig geschlossen wurde. Die überwiegend jüdischen Persönlichkeiten, die mit ihm verbunden waren, gingen entweder in die Emigration oder ihr Leben endete in den Vernichtungslagern. Trotz alledem zerstörte 1945 ein wütender Mob alles im Theater, was auch nur im Entferntesten an Deutschtum erinnerte, darunter Büsten der Klassiker Friedrich Schiller, Wolfgang Amadeus Mozart und Johann Wolfgang Goethe. In einem Feuer, das alles verbrannte, was verbrannt werden konnte, verbrannte paradoxerweise auch ein Teil der tschechischen Kulturgeschichte, die das Neue Deutsche Theater in Prag zwischen 1888 und 1938 geschrieben hat. Nur einige Schilder des Theaters konnten gerettet werden, die heute im Nationalmuseum aufbewahrt werden. 

Vielleicht ist es anmaßend, im Jahr der tschechischen Musik darauf hinzuweisen, dass die tschechische Kultur untrennbar mit der deutschen Kultur verbunden ist, einfach aufgrund historischer Ereignisse und Fakten. Dennoch hat diese Verbindung die tschechische Musik um eine Reihe wichtiger Impulse bereichert, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichten. Damals setzte die Zusammenarbeit zwischen Tschechen und Deutschen Prag den Stempel einer europäischen Kulturmetropole auf. Die Persönlichkeiten des Neuen Deutschen Theaters – der erste Intendant Angelo Neumann, Alexander Zemlinsky oder George Szell – haben sich untrennbar in die Geschichte nicht nur der europäischen, sondern auch der Weltmusik eingeschrieben. Und das Prag der Ersten Republik hat sich sein Image als Stadt der Toleranz, des gegenseitigen Respekts zwischen den Nationen und der Religionsfreiheit bewahrt. Der Ideen, die heute mehr denn je von Bedeutung sind.

Dieser Artikel erschien in der sechsten Ausgabe des Printmagazins N&N Czech-German Bookmag

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