Interior Designer Stephan Schilgen über die Subliminalität von Gemütlichkeit

Badezimmerwände aus alten Glastüren des Café Moskau in Berlin oder ein Kronleuchter aus einem Munitionsfass von 1914. Der Berliner Stephan Schilgen liebt es, mit seinen Interiors Geschichten zu erzählen. Funktionale und informelle Umgebungen wie Büros und Verkaufsräume vertragen durchaus Gemütlichkeit, weshalb er darin Bars und Lounges integriert, was zwar „Workspace“ reduziert aber letztlich Interaktion und Kommunikation optimiert und dadurch langfristig mehr Erfolg bringt.

Stephan Schilgen ist immer unterwegs. Als Ex-Klubbesitzer, als Interior Designer und Sammler bereist er die Welt und hinterlässt Spuren.

Sie besitzen eine große Sammlung von Möbeln und Accessoires, die Sie auch an Museen, Messen, Shootings und Filmproduktionen verleihen. Wie sind Sie zu ihr gekommen und wie viele Stücke umfasst sie?

Das ist schwer zu sagen, irgendwann habe ich aufgehört zu zählen und im Gegensatz zu früher erkenne ich auch vieles nicht wieder, obwohl ich es wohl irgendwann gekauft habe, weil eine kritische Masse überschritten wurde. Es gab jedoch Zeiten, da wusste ich von jeder einzelnen Existenz und Provenienz. Jedenfalls habe ich gelernt, wenn auch Karl Marx materielle Akkumulation als menschenfeindlich bezeichnet, wirkt sie in unserem Fall kulturstiftend, weil die Gegenstände einander beschützen können wie eine Armee ihre Soldaten. Die Vereinzelung führt heutzutage schnell zum Verschwinden, vor allem durch die Unwissenheit der Besitzer und die Massenproduktion der modernen Simulationen, die das Alte und Echte zwar überlagern aber nicht ersetzen können. Insofern sind wir auch ökologisch ein Vorbild, im Sozialismus nannte man das „Musterbetrieb“, weil wir die oft unwissenden Kunden vor Fehlkäufen bewahren, indem wir ihnen authentische Güter auf Zeit vermieten.

Ich war zum Beispiel gerade in einem Hotel in der ersten Reihe in Karlsbad, genau gegenüber den legendären Heilquellen, das war komplett ausdekoriert mit Fake aus Gips und Plastik, da war nichts echt, jedes Landschaftsbild, jedes „Barockmöbel“ und jeder „Kristallüster“ waren indische, orientalische oder fernöstliche Schnellkopien von Archetypen, die zum Teil in Böhmen entstanden sind! Wie gerne würde ich dieses Hotel authentisch ausstatten, das böte ich freiwillig, als Beitrag zur Heilung dieses heiligen Ortes. Eine originäre Ausstattung wäre für uns alle, auch für internationale Gäste, attraktiver.

Stilbruch in Karlsbad

Sind Sie als Sammler ein Opfer?

Was das Sammeln an sich betrifft, ja, irgendwie scheine ich in der Falle zu stecken, an nichts vorbeigehen zu können – immer, wenn ich etwas Schönes entdecke, muss ich es haben. Das fing bereits als kleines Kind in den 70ern an: Versteinerungen, Knochen, Briefmarken… Wahrscheinlich Verlustängste.

Und wie ging’s weiter?

Zur Wende 1990 war ich ein Student in Berlin, da wurde ständig illegal gefeiert, halb Prenzlauer Berg und Mitte standen leer – man musste nur das verlassene Ladengeschäft aufknacken, ein paar Kästen Bier besorgen, eine Anlage mit fetten Boxen reinstellen, und los ging’s. Das war eine wunderbar anarchische Zeit, wenn man bedenkt, unter welch bizarren Umständen wir derzeit leben.

1996 warf ich mein Studium hin, denn wir wollten einen legalen Klub, weil wir auf HipHop standen und die ganze Stadt vom 90er Marschmusik-Techno dominiert war. Obwohl ich noch keine geeigneten Räume hatte, fing ich mal wieder gleich damit an, Mobiliar einzukaufen.

Sind Sie etwa ein Ostler?

Ich bin im Wedding geboren, falsche Seite Spree, habe nur bedingt regionale Identität, das hatte und hat noch heute Vor- und Nachteile, wobei es mit den Jahren besser geworden ist, denn ich werde wegen meiner Andersartigkeit nicht mehr so angemacht. Die Normierungen haben sich gedreht: die Wilden sind heute die Spießer, als Verwaltungsangestellter muss man mindestens doppelt gepierct und an drei Stellen tätowiert sein, sonst schauen einen die Kollegen schief an. Aber machen wir uns nichts vor, als Individualist hat man es nicht leicht.

Zu Ihrer Frage: Meine Mutter kommt aus Floh in Thüringen (das gibt es wirklich), mein Vater kommt aus Kleinmachnow, südwestlich von Berlin, also sind beide in der DDR geboren. Ihre Familien siedelten nach dem Krieg über nach Westberlin, und später in die BRD. Dadurch konnte ich bereits als Kind beide Seiten erleben und vergleichen, denn zu Familienfesten waren wir regelmäßig im Osten auf Urlaub.

Gleich nach der Wende 1990 bin ich nach Ostberlin gezogen, mich reizte dieser morbide Charme, denn die Verwahrlosung betraf ja eine Stadt, die im Wesentlichen ab 1870 bis 1914 gebaut worden war, wo unter dem ganzen Zerfall so eine wundervoll friederizianisch-wilhelminische Substanz blühte, die im Sonnenlicht durch die Kriegsschäden lieblich schimmerte.

Ich weiß noch, wie ich täglich von dort auf einem orangenen Motorrad MZ 251 mit Ost-Kennzeichen (angemeldet über die Tochter der Vermieterin) in die Publizistische Fakultät nach Lankwitz flitzte, etwas zu rasant in jugendlichem Leichtsinn, worauf ich übelsten Anfeindungen der Westberliner Verkehrsteilnehmer ausgesetzt war, die aus ihren Autos heraus brüllten und die Fäuste zeigten. Sie dachten, da würde ein frecher Ossi ihre Regeln brechen. Mit meinem Westführerschein war ich gar kein Ossi, hatte nur das falsche Kennzeichen.

Und dann kam der Klub.

Der Klub sollte eine Tauschbörse für kreatives Potenzial werden. Es ging um mehr als nur darum, Getränke zu verkaufen, es ging um irritierende und inspirierende Happenings, die glückliche Gefühle in den Gästen auslösen sollten. Damals konnte man ja wirklich noch erkennen, wer aus dem Osten kam und wer aus dem Westen, und der Klub war dabei so eine Art Schmelztiegel, in dem sich Leute begegneten, die auf der Straße nie zusammengekommen wären. Die bösen Jungs aus dem Wedding versuchten genauso reinzukommen, wie die Rapper aus Schöneberg oder die Styler aus Neukölln, und aus der Nachbarschaft kamen die Mitte-Boys hinzu mit den Mädchen aus Marzahn. Da liefen Trendscouts rum, die sich die Skills von uns abschauten, um daraus industriellen Schick zu machen. Es entstand eine tolle Ost-West-Melange, in der wir einander gegenseitig bereicherten mit unseren Ideen. Wir drehten Filme, wir machten Zeitung. Der Klub war eine Brücke über den eingerissenen Eisernen Vorhang, zwischen Street Art und akademischer Kunst, zwischen den unterschiedlichen Jugendkulturen, die zu jener Zeit weiter auseinanderlagen, als heute.                                                                       

Im gekurvten Bartresen sind die Morsezeichen „Kurvenstar“ eingelassen

Hatte der Klub Erfolg?

Bei Berlinalepartys hatten wir Tarantino, Samuel L. Jackson und Pam Grier im Haus und eine Woche später QTip oder Ol´ Dirty Bastard. Das waren krasse Abende und die Familie ist dabei fast auf der Strecke geblieben. Meine Frau hat mir Jahre später erzählt, dass sie sich damals mehrfach trennen wollte. Das ließ mich erschüttern, hatte ich doch nie an Trennung gedacht und im Rückblick die Zeit ganz anders wahrgenommen. Klar gab es Tage, da verhielt sich mein zweijähriger Sohn, als sei ich ein Fremder, wenn ich nach wochenlanger Auslandsmontage zurückkam. Acht Jahre später habe ich mit seiner Schwester alle Zeit der Welt verbracht, und gemerkt, wie sehr ich den Großen als Kleinen vernachlässigt hatte, Asche auf mein Haupt. Aber ich bin mir sicher, wir haben es nach all den Jahren nicht bereut, diese harten Zeiten gemeinsam durchgestanden zu haben. Heute haben sich alle lieb.

Und damals entstand auch Ihre Sammlung. Wie groß ist ihr Lager?

Es fing so richtig 1995 mit dem Einkauf von Mobiliar und Dekoration für den Klub an, und ich habe damit bis heute nicht aufgehört, was das eigentlich Schlimme ist, denn wir haben den Kurvenstar bereits 2002 verkauft. Zunächst waren es dezentrale kleine Orte, wie Garagen, leerstehende Wohnungen und Ladengeschäfte, wo ich auch irgendwann vergaß, was dort gelagert war, und dann kam der Tag, da hatte ich den Überblick komplett verloren. Daraufhin stellte mich meine Frau zur Rede, was ich da eigentlich vorhätte, wie ich mir das vorstellte, das würde im Chaos enden. Ich war so eine Art Messi geworden, ein Edelmessi, aber mit denselben Pathologien, also dem ständigen Anhäufen von Gegenständen ohne erkennbaren Grund… außer, dass ich in einer quasi vogelfreien Funktion alle Einzigartigkeiten bewahren wollte, eingemottet und in Kisten verpackt, das war totes Kapital, wirtschaftlich unsinnig, aber ich konnte nicht anders. Ein Businessplan oder eine Gewinnerwartung waren mir ohnehin nie wichtig, dazu fehlt bis heute die Motivation. Durch die Jobs kam ja Geld rein für die Miete und weitere Ankäufe, zur Not auch mal auf Pump. Später habe ich eine große Halle gemietet, um endlich alles transparent zu machen. Daraus sind mehrere Hallen geworden, was dem Projekt erneut die Überschaubarkeit nimmt.

Das kostet aber…

Unsere größte Halle kostet 7500 Euro im Monat Miete. Die muss man erstmal erwirtschaften.

Wie ging Ihre persönliche Entwicklung weiter?

Zwischen dem Leben als Klubbetreiber, der sich von Ast zu Ast hangelte und ganzjährig von den Behörden gegängelt wurde – man kam ja gleich hinterm Zuhälter – und dem Leben als Sammler alter Kulturgüter, gab und gibt es weitere Existenzen als Interior Designer, als Messebauer und Shopgestalter, ohne die jene anderen beiden Leben nicht möglich gewesen wären. Das wurde ich ohne Vorsatz, weil der Klub Kurvenstar so sexy aussah und bereits

1998 Agenturen und Privatleute auf mich zukamen und meinten: „Bitte baue mir auch so was Tolles“, worauf ich die Chance erhielt, für große Firmen, wie MTV oder T Mobile kreativ zu sein. Für MTV haben wir in 12 Monaten 10 Studios gebaut. Für T Mobile Europe haben wir über 10 Jahre die wichtigsten Party- und Eventlandschaften in Südeuropa und auf den Inseln ausgestattet.

Dazu braucht man ein funktionierendes Unternehmen.

Ich habe halt immer Ja gesagt, auch wenn es groß war. Mit den richtigen Jungs im Team schaffst Du alles. Danach folgten Bread&Butter und acht Jahre Fashion Week Berlin. Heute gestalten wir weltweit für Firmen wie Chanel, Omega und Tiffany. Diese großen Jobs ziehen Umsätze nach sich, die es wiederum erlauben, weiterhin schöne Dinge einzukaufen. Früher war das eine Sünde, weil man der Familie Geld entzog, heute nenne ich es Umweltschutz, weil wir Nachhaltiges vorm Verschwinden retten, es recyclen und öffentlich anbieten, was mittlerweile auch Erfolg verspricht. Übrigens, wenn jemand günstige Hallen zur Miete oder zum Kauf hat, gerne hätten wir eine Dependance in Prag. Dort sitzen einige unserer besten Kunden und die müssen ständig nach Berlin fahren – und zurück.

Wozu haben die Firmen Sie gebucht?   

Die wollten mich als Interieur Designer, der bis zur finalen Oberfläche liefert und einbaut. Als einen, der sich hinstellt, wenn etwas nicht klappt, denn die anderen übernehmen keine Verantwortung, das kennt man. Gott sei Dank hat es am Ende immer hingehauen, manchmal sind wir hinten mit der Palette rausgefahren, wenn vorne die ersten Gäste reinkamen. Und wenn 200 Tom Vac Chairs für den GSM Congress in Barcelona benötigt wurden, habe ich die eben besorgt und von da an im Prophouse gelagert, das war gut für den Verleih.

Es ging meist um Partys für ein paar hundert Top Seller und Agenturtypen. So sind wir mit drei 35t-Trailern nach Teneriffa oder nach Ibiza gefahren, haben dort zwei Wochen lang Setups in einer Villa, auf der AIDA oder in einem Golfressort eingebaut, und dann wurde vier Tage gefeiert auf Teufel komm raus. Da gab es zum Frühstück Gin Tonic und nachts floss der Champagner. Ich weiß jedenfalls, wo die Telefongebühren der armen Kunden gelandet sind.  

KStar übt sich im Stilmix und schafft Atmosphären. Die Metalldecke ist aus der Nachtbar des Café Moskau in Berlin. Das Restaurant wurde für einen Prominenten in Berlin/Kreuzberg gebaut.

Welche Art von Möbeln sind Ihnen am Liebsten?

Am liebsten sind mir Stühle und Sessel, ich sitze nunmal gern. Aber im Ernst, ich liebe alle Epochen, kann jedem Stil etwas abgewinnen. Zur Zeit steh ich auf Memphis, der Symmetrie im Unsymmetrischen, aber das, was man Midcentury nennt, eine Phase, die von den späten Dreißigern bis in die frühen Sechziger ging, liebe ich am meisten, sie ist super sexy, weil sie einerseits das sogenannte Klassische Design hervorgebracht hat, andererseits mit Formen des Organischen Design, mit Hippie- und Ethno-Art gespielt wurde, so dass in jenen Jahren eine Explosion an Stilen, Materialmixen und Farbenvielfalt entstanden ist, die ihresgleichen sucht.

Wo lagen die Ursprünge des Midcentury?

Im Krieg sind viele Bauhäusler nach Kalifornien gezogen, haben das New Bauhaus etabliert, das leider ein wenig die Handwerklichkeit und die Verbindung von Architektur und Craftmanship durch Massenproduktion ersetzte, was immerhin dem ursozialen Gedanken des Bauhaus folgte, Wohnraum und Mobiliar für jeden zu schaffen.

In den USA sind durch namhafte Designer wie Eames, Saarinen oder Bertoia die schönsten Midcentury Möbel entstanden, üppiger als im Nachkriegs-Italien oder -Frankreich, die aber schnell aufholten. Von der riesigen skandinavischen und vor allem dänischen Möbeltradition will ich schweigen, das wäre ein eigenes Kapitel.

Eine kleine Anekdote: In der DDR gab es 1949 einen Designer namens Menzel, der entwarf, was kaum jemand weiß,  den ersten Schichtholzstuhl Europas, von dem nur ca. 5000 Stk. gebaut wurden. Der Stuhl wurde zum vergessenen Bauhausklassiker, obwohl ihn die DDR-Oberen verschmähten, er war ihnen zu ärmlich in der Form. Der Menzel-Stuhl erzielt heute auf Auktionen 2000 €.

Der Menzelstuhl ist, was keiner weiß, der älteste Schichtholzstuhl Europas! Er wurde bereits 1949 entwickelt und gefertigt, kostete 29 M-chen (Mark). Heute erzielt er Höchstpreise.

Sie haben einige der bedeutendsten Möbeldesigner erwähnt. Eine andere Frage ist aber, wie wir mit deren ikonischen Stücken umgehen. Nehmen wir den Eames Lounge Chair. Was ist der Grund dafür, dass fast in jeder Printwerbung für Häuser oder Apartments gerade der genannte Sessel mit Ottoman platziert wird, womit das einst so originelle Stück zu einem Opel Astra aller Möbel degradiert wird?

Das passiert, wenn eine Ikone durch inflationären Einsatz zum leeren Symbol wird. Charles und seine Frau Ray Eames haben bereits in den 40er Jahren gemeinsam das Sitzmöbeldesign revolutioniert. Fast alle coolen Stühle, in denen die Wirtschaftschefs und die Spitzenpolitiker seitdem sitzen, sind vom Ehepaar Eames. Mag es der Soft Pad Chair sein, der Lobby Chair, der Alu Chair, der bereits erwähnte Lounge Chair, oder der Eames Side Chair mit seiner begehrten Fiberglasschale. Es gibt Ikonen, die werden so inflationär eingesetzt, dass sie irgendwann wehtun im Auge, was ihnen allerdings nie den Status des Klassikers nehmen kann, der außerhalb jeder Bewertung steht. In der Werbung werden die einfach totgeballert, weil das Denken der Geldleute simpel funktioniert: Sie glauben fest daran, sie hätten alle bisherigen Immobilien über dieses eine Möbel verkauft, warum sollten sie also die bewährte Methode ändern, der Lounger evoziert edle Gemütlichkeit im neuen Zuhause.

Dabei gibt es da viel mehr, die Tschechen haben zum Beispiel eine herausragende Midcentury Designtradition und auch tolle Sessel, die ich viel lieber auf Billboards in Prag sehen würde.

Ein sexy Lounger von Miroslav Navratil. Die Tschechen sollten endlich ihre Designkultur entdecken.

Echt?

Die Tschechen sind als kleines Land die absolut größten Designer des ehemaligen Ostblocks. Sie haben eine Designsprache entwickelt, die umso höher wertzuschätzen ist, da spätestens ab 1968 mit der Okkupation durch die Sowjets das Material knapp wurde und zum Musterbau benötigt man nunmal Maschinen und Material. Im Kommunismus bleiben Designer oft auf ihren Entwürfen sitzen, weil sie nicht die Mittel haben, sie konkret umzusetzen. Unter diesen Bedingungen haben die Tschechen wundervolle Möbel entworfen und gebaut. Miroslav Navrátil und die Firma Interier Praha stehen für den riesigen Erfolg des tschechischen Midcentury Design, zu der bereits der Visionär Jindrich Halabala zu zählen ist, der bis 1964 leitend für die UP in Brünn tätig war, dem größten Möbelhersteller der damaligen Tschechoslowakei.

Wo kaufen sie meistens ein?

Ich gehe auch in Frankreich und England auf Märkte. Vieles findet man durch Zuträger bei Wohnungsauflösungen. Es war vom Lounge Chair und seiner inflationären Handhabe die Rede. Ich habe über die letzten Jahrzehnte acht unterschiedliche gekauft, die werden kaum vermietet, wahrscheinlich wegen der blöden Plakate. Plötzlich kam ein Lounge Chair um die Ecke, ein US-Import aus rotem Leder von 1960, unten gebranded, den musste ich kaufen. Sowas habe ich noch nie gesehen. Es ist sicher der einzige rote Leder-Lounge Chair aus dem originalen Midcentury in Deutschland. Aber den kriegt kein Retailer! In der Andersfarbigkeit achtet man wieder auf die Genialität der Form, aber das ist zu hoch für einen Werbefuzzi, der merkt den Unterschied gar nicht.

Ein roter Lounger aus Zeeland, Michigan von 1960, er überstrahlt seine schwarzen und weißen Geschwister.

Und was schätzen Sie besonders?

Dem genialen Designerpaar Eames ging es immer um die Funktion, in diesem Fall um die Schnittstelle – das ist das allerwichtigste. Das Untergestell aus Metall, die Sitzschale aus Fiberglas oder in diesem Fall aus einer furnierten Schichtholzpressung von 1946, eine Erfindung von Eames und danach tausendfach kopiert. Und gerade an dieser Schnittstelle scheitern die meisten Designer und Hersteller mit ihren Möbeln – da brechen die irgendwann. Daher baute Eames in die direkte Verbindung von Gestell und Sitz bei einigen Typen einen „Shockmount“ in entsprechender Form als kräftepuffernden Gummi ein, oder eben eine federnde Dynamik, bzw. Hydraulik.

Wo findet man Designikonen preiswert oder bezahlbar?

Wenn heute ein Erbe in die Wohnung seiner verstorbenen Großeltern kommt, hat er vorher meist im Internetz sämtliche wichtigen Gegenstände auf deren Wert hin recherchiert, um sich einen Informationsvorsprung zu verschaffen. Wehe, es haben sich mehrere schlau gemacht, dann ist der Stress vorprogrammiert, zumal die Dinge im Netz auf den entsprechenden Plattformen überteuert angeboten werden, was die Laien nicht wissen, wer sollte es ihnen verdenken. Diese Vorrecherche gab es früher nicht, weil es kein Internetz gab, und so konnte man als wissender Dritter Glück haben, bzw. reale Verhältnisse vorfinden, denn die Wiederverwertung wird besteuert, das muss man eigentlich (haha) bei jedem Kauf bedenken.

Wegen Corona verspricht zurzeit der Flohmarkt Erfolg. Dort stehen jene sympathischen Dinosaurier, die beschlossen haben, sich dem Internetz zu verweigern. Ich sage Ihnen, sogar beim Besuch des kommerziell meistverrufenen Marktes Berlins, auf der Straße des 17. Juni, finde ich um halb Zwölf immer noch etwas Wertvolles zum erschwinglichen Preis.

Sie arbeiten momentan am Interieur einer Prager Wohnung.

Erstmal liebe ich Prag seit meinem ersten Besuch 1991, weil in Berlin nach dem Krieg alles kaputtgemacht wurde, hier dagegen sind 90% der Substanz stehengeblieben und mittlerweile ein Großteil saniert. Schauen Sie sich die Fassaden an, die üppige Symbolik! Im Alten steckt mehr Wertigkeit, weil die Menschen damals mehr Liebe zum Detail hatten und der Staat das Handwerk nicht so unverschämt besteuerte, was aufwendigeres Bauen erlaubte. So verhält sich das zumindest in Deutschland. Das ist nebenbei der Grund, weshalb deutsche Architekten am liebsten im Altbau leben, nicht in ihren eigenen Werken.

Wie sind Sie mit dem Besitzer zusammengekommen und was haben Sie mit seinem Zuhause vor?

Der Kunde ist sowohl in Berlin als auch in Prag geerdet und ich bin mit ihm über Freunde zusammengekommen. Es handelt sich um eine Apartment im Stadtviertel Bubeneč, das wir üppig, originell und authentisch ausbauen werden. Ich bin gegen Bilderstürmerei, man muss Respekt haben vor der Substanz. Außerdem finde ich es spannend, wenn man mit bereits vorhandenem Design eine Geschichte erzählt, indem man es in neue Räume integriert. In Bubeneč zum Beispiel setzen wir ein riesiges, visionäres Halbrelief der Technischen Hochschule Brünn von 1961 ins Wohnzimmer, eine Allegorie der Verflechtung von Mensch und Maschine, ein brutalistischer Mechanismus, der gleichzeitig einem komplexen Organismus aus Frau, Mann, Erde, Wissenschaft ähnelt, wunderbares Zeitdokument der Utopie des realistischen Sozialismus. Wir fügen auch andere historische Gegenstände in die Wohnung ein, als Referenz an die reichhaltige Geschichte Tschechiens. Es wird extraordinär.

In Tschechien wie auch in Ostdeutschland entdeckt man noch ab und zu diverse Andenken an den Kommunismus. Unsinnige Gitter, mit Drahtglas versehene Metalltüren in einem Jugendstilhaus oder bizarre Kunststoffoberflächen. Ist Ihnen sowas auch aufgefallen?

Diese ignorante Übergriffigkeit steckt in allen utopischen Systemen und Ideologien. Die sehen ihr Heil ja nie im Hier und Jetzt, sondern immer auf dem Weg in die jeweilige schöne neue Welt, der meist mit Opfern gepflastert ist und auf dem man doch nie ans Ziel gelangt ist. Aus dieser ungeduldigen Arroganz entsteht jener unbarmherzige Umgang mit der Gegenwart, jene Gegnerschaft zum Vertrauten. Für die damaligen Ideologen gehörte alles vergittert, zugemauert, zerstört und am besten beseitigt, wie es derzeit in NGO-Bewegungen wie der Cancel Culture erschreckenderweise wiederaufersteht. Da blutet mir das Herz.

Ja, Andenken an den Kommunismus… er hatte einen eigenen Geruch! Wenn ich den heute in irgendeinem Keller in Berlin wiederentdecke, es gibt Orte, da hat er sich bewahrt, dann halte ich inne, atme tief ein und es kommt mir in den Sinn: Geil – DDR! Das war dieses Desinfektionsmittel, das überall versprüht und verschmiert wurde. Da ereilen dich nostalgische Gefühle, bildet sich eine real-olfaktorische Verbindung zum muffigen Ostblock.

Ein Interior Designer muss auch mit Architekten zusammenarbeiten. Wie kommen Sie mit ihnen aus? 

Generell gut. Wir bauen gerade eine Villa in Dahlem aus, dem teuersten Bezirk in Berlin, da wohnen die Reichen und Schönen. Es ist ein Riesending, eine historisierte Backsteinburg von 1920, mit über 800qm Wohnfläche. Unter mehreren erhaltenswerten Oberflächen fiel mir im Keller der bunte und wunderschöne Fliesenbereich in den Blick, eine Art psychedelischer Waschküche, die mit verschiedensten quadratischen Kacheln belegt war. Dieses abstrakte Makro-Mosaik mutete beinahe zukünftig an, überhaupt nicht zeittypisch, eher in die Kunst passend als ins Interior Design jener Epoche, ein ganz frühes und zukünftiges Bauhaus-Piece.

Als ich zum nächsten Jour Fixe mit den Handwerkern kam, hatten die Abrissbrigaden auf Geheiß des Architekten und Bauleiters alles entkernt, das Mosaik von der Wand geschlagen und entsorgt. Sie hatten damit ein historisch einmaliges Relikt zerstört, es geschah im Juni 2020. Leute, hört auf, das Alte kaputtzumachen, es ist genug zerstört!

Detail der psychodelischen Waschküche in Dahlem.

Was wäre Ihre Methode?

Mein Ansatz ist es, erstmal reinzugehen und zu checken, was erhaltenswert ist. Altes Parkett muss nicht komplett ausgetauscht werden, oft funktioniert dessen Renovierung, auch wenn so mancher „Experte“ meint, das lohne nicht. Man kann durchaus altes Parkett mit neuem intarsieren, das hat mehr Charme und Seele als ein neuer Fußboden. Es wird oft ignoriert, dass Gegenstände oder Bereiche erhaltenswert sind, gerade weil die Leute Ihren unbedachten, aus den Massenmedien adaptierten Stil reinbringen wollen und behaupten, Reparatur sei zu teuer. Das hat für mich etwas Respektloses und Bilderstürmerisches. Sowas geht nicht. Du musst Rücksicht nehmen auf das Haus, auf den Schnitt, die Alten haben sich etwas dabei gedacht. In solchen Momenten kollidiere ich mit freidrehenden Architekten, die sich in ihrer Selbstverwirklichung so wichtig nehmen, dass sie die Ideen des Erbauers ignorieren und Schaden anrichten – mit welchem Recht auch immer, sie spielen mit dem Vertrauen des Bauherren.

Was ist gutes Interior Design?

Die Bauhausschule, die einmal Prag und Berlin so innig verband, gibt vor, dass das wahre Design der Funktion folgen muss, ohne jedweden Zierrat und mit eigener Schlichtheit oder selbsterschaffener Ornamentik, die gab es dort durchaus. Das war aus der Zeit heraus nachvollziehbar, trifft allerdings heute nicht mehr ganz zu. Wer will denn, wie Le Corbusier damals, Paris dem Erdboden gleichmachen, um an seiner Stelle eine modulare Stadt zu errichten? Das Bauhaus hatte auch was Gefährliches in seiner Utopie.

Neben diesem reduziert Klassischen gibt es das verspielt organische Design, das es mit Fluchten und Goldenem Schnitt nicht so ernst nimmt, nichtsdestotrotz eigenen Regeln folgt.

Wenn’s ums Design geht, dann wird er ernst. Stephan Schilgen im Gespräch mit dem NN Magazine-Reporter David Horák.

Soll Wohnraum auffällig sein, oder eher zurückhaltend?

Der gängigen Meinung konventioneller Architekten und der Vertreter des Bauhaus nach ist es schwieriger, einen reduzierten Raum zu gestalten und mit wenig auszustatten, als den Raum üppig mit viel Gegenständen und Dekoration zu füllen, das sei easy, wird behauptet. Ich dagegen vermute, es verhält sich genau andersherum. Viel schwieriger ist es, einen Raum üppig auszustatten und dabei die Verhältnisse zu wahren, sich also zunächst dem Chaos auszusetzen und alles Infragekommende zuzulassen, um dann, in einer Phase der Reduktion, Ideen und Dinge wieder hinauszuwerfen, also die Gradwanderung durch die Beliebigkeit zu wagen. Das ist eine deutlich komplexere Herausforderung, als mit reduzierter Vorgabe einige wenige Möglichkeiten auszuloten und solange an einem Stuhl zu rücken, bis das Bild stimmt. Der Einsatz vieler Farben und Formen lässt viel mehr Kombinationen zu und kann schnell ins Beliebige ausarten, oder noch schlimmer, ins Kitschige. Obwohl, in dem Bereich läßt sich zum entsprechenden Anlass auch gut rumspinnen. Hier liegt die wahre Kunst des modernen Interior Design, dass man Stile mischt und alles unter eine komplexe Prämisse stellt. Ein altes Beispiel: Hollywood Regency. Die richtige Komposition bildet künstlerischen Komfort, nicht das Einzelstück.

Alles so schön bunt hier! Laß uns Platz nehmen…    (Photo: Achim Hatzius)

Was kann man mit Interior Design erzielen?

Die Seele ist ein Abbild der Außenwelt und andersherum ist die Außenwelt etwas, das die Seele beeinflusst. Nach Fertigstellung einzelner Räume merke ich manchmal, wie Eintretende beginnen, leiser zu sprechen, als seien sie im Museum. Sie haben offensichtlich Respekt vor dem, was da komponiert wurde und erheben es durch ihr andächtiges Verhalten zu einem würdigeren Ort.

Man kann Menschen mit designter Gemütlichkeit im Büro oder in einem Verkaufsraum entsprechend entspannen. Jahrelang haben wir für ein edles Modelabel Shops in ganz Europa gebaut, da meinten die Betreiber immer, bitte keine Lounge, wir benötigen jeden Meter als Verkaufsfläche, er muss Geld bringen! – dann sage ich erstmal Stop. Wenn Du da eine Lounge platzierst und die Frau betritt den Laden, meist gefolgt von ihrem mit Taschen beladenen Mann, kann er sich aufs Sofa setzen und relaxen. Laß noch ne Modenschau auf dem Monitor laufen. Dann bleibt aber auch die Frau viel länger und probiert Sachen an, zumal wenn man den beiden noch einen Drink serviert. Gemütlichkeit bringt Umsatz!

Nach ihren Meetings in Bürogebäuden sind alle steif, und die eigentlichen Abmachungen werden abends in der nächstgelegenen Bar gemacht, weil es da gemütlicher zugeht. Also baue ich in das Geschäftshaus eine heiße Bar mit ebensolcher Lounge. Dort kann man sich näher kommen und miteinander menschlich sein, zur Not mit Mundschutz. Dann laufen die Geschäfte plötzlich im Haus. Mit richtigen Räumen kann man positive Interaktionen zwischen den Menschen befördern. Sie wissen es nicht, sie spüren es subliminal, fühlen sich wohl und werden so offen, wie wir beiden jetzt (lacht).

Nach dem anstrengenden Einkauf der Gattin wirft der Mann den zentnerschweren Einkauf in die Ecke und gönnt sich ein Päuschen.

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