Viktor Pivovarov, Der lange Arm. Quelle: Staatliches Russisches Museum, NGP.
Reinkommen in die Streichholzschachtel
Über die Nationalgalerie wird in letzter Zeit vor allem im Zusammenhang mit der außerordentlich erfolgreichen retrospektiven Ausstellung Toyen gesprochen, die weiterhin in der Wallenstein-Reithalle (Valdštejnská jízdárna) zu sehen ist. Es wäre aber schade, wenn man dabei eine andere retrospektive Ausstellung außer Acht lassen würde, die im Mai 2021 im Messepalast eröffnet wurde. Der Schwerpunkt der Ausstellung ist das Lebenswerk des Malers und Illustratoren Viktor Pivovarov (*1937): seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als Pivovarov auf der nicht offiziellen Künstlerszene in Moskau tätig war, bis zu seiner künstlerischen Gegenwart hier in Prag. Sein Werk wurde stark von seiner Kindheit beeinflusst, die er in der ehemaligen Sowjetunion verbrachte: in Bildern und Illustrationen wird sie meistens in Sprüchen in der Kyrilliza dargestellt. Eine Inspiration durch das Alltagsleben stellt zum Beispiel eine Riesenreplik der Streichholzschachtel dar, die man betreten und so in den eigenen Mikro-Ausstellungsraum hinübergehenkann.
Was am Anfang verspielt und naiv erscheinen mag, bringt oft wichtige und persönliche Themen, Gefühle der Ausweisungund Nostalgie zum Ausdruck. Es hängt auch mit der Weltanschauung und der Menschenwahrnehmung des Künstlerszusammen. „Ich will furchtbar meinen Kopf wegschneiden und die Umwelt mit etwas anderem betrachten,“ so Pivovarovin seiner kurzen Vorstellung für die Nationalgalerie Prag, und er fordert uns auf, die Welt mit anderen Augen zu betrachten. Am besten mit solchen Augen, die die Seele sehen können, damit man sie dann zum Bespiel in Form von geometrischen Figuren darstellen kann. „Ich denke, dass man die Seele darstellen kann, aber nur auf kindliche Weise. Wir müssen uns vereinbaren, dass dieser Knopf Gott, dieses Rad die Seele, diese Wellenlinie Bewewung und dieses kleine Viereck der Mensch ist,“ so Pivovarov. Nach ihm sei die Seele nicht nur den Menschen eigen. Deswegen findet man in der Ausstellung auch Seelen von Schnecken und Medusen.
Viktor Pivovarov, Foto: Serghei Gherciu.
Die Ausstellung Viktor Pivovarov: Moskauer Gotik befindet sich im Messepalast (Veletržní palác) und ist bis 21. November 2021 zu sehen.
Illustration auf der Glücklaterne
Die Illustration ist das Thema auch einer aktuellen Ausstellung in der Galerie der Hauptstadt Prag, die eine Rückschau auf das weniger bekannte künstlerische Schaffen von František Skála ermöglicht. Die Ausstellung bietet eine idealle Gelegenheit neben der Maler- und Bildhauerwerke von Skála auch seine Buchillustrationen kennenzulernen, die gerade durch sein freies Schaffen markant beeinflusst wurden. Skála befasst sich mit Buchillustrationen verschiedener Genres schon seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Dank seiner künstlerischen Vielseitigkeit verwendet er auch verschiedene Verfahren.
František Skála, Baba Yaga Bony Leg. Quelle: GHMP.
Zum Beispiel im Buch Die Brüder Löwenherz verwendet Skála die Originaltechnik „Scurografie“, die zur Darstellung von Nacht- und Makaberszenen geeignet ist, und daher für Illustrationen eines Kinderbuches, dessen Geschichte sich nach dem Tod der Haupthelden abspielt, ideal war. Die Scurografie-Technik besteht darin, dass ein mit Bleistift auf ein durchsichtiges Papier blind gezeichnetes Negativbild fotografisch entwickelt und umgesetzt wird. Dieses Verfahren sorgt für eine besondere Atmosphäre. Zu weiteren ähnlichen Techniken zählen Thermozeichnungen, die durch Kontakt von wärmeempflindlichem Faxpapier und warmer Metallplatte entstehen, oder mit Bleistift gezeichnete Zeichnungen auf Grundlage von Bildern, die spontan durch feines Lampenschwarz auf dem „Glücklaternen“-Papier entstehen.
Die Ausstellung František Skála und andere Arbeiten befindet sich im Haus zur steinernen Glocke (dům U Kamenného zvonu) und ist bis 29. August 2021 zu sehen.
Vergangenes Jahrhundert à la Pasta Oner
Nach vier Jahren präsentiert sich in Prag auch Pasta Oner. Seine selbständige Ausstellung in der Galerie Villa Pellé im Prager Stadtviertel Bubeneč bietet 60 neue Werke, die Oner in letzten zwei Jahren geschaffen hat. „Die Ausstellung in der Villa Pellé ist ein wesentlicher Meilenstein für mich. Ich empfinde einen großen Respekt und muß zugeben, dass ich auch ein bisschen Lampenfieber habe“, so Pasta Oner. Wie man bei Pasta Oner gewöhnt ist, unterscheiden sich seine Werke sowohl in technischer Hinsicht, als auch thematisch. Das Verbindungselement ist jedoch das 20. Jahrhundert, das Oner als den Höhenpunkt der gegenwärtigen Zivilisation darstellt. Die Besucher können sich auf klassische Gemälde im Großformat und Popart-Ästhetik freuen. Experimentelles Schaffen wird durch zwei ganz neue, noch nie ausgestellte Techniken repräsentiert: farbige Pastellzeichnungen auf Leinwand und monochromatische in Kunststein abgegossene Radierungen.
Pasta Oner, The Birth of Venus. Quelle: Facebook / Villa Pellé.
Das letzte Ausstellungsgeschoss wird als eine museale Reminiszenz der unweiten Intervention des Autors im öffentlichen Raum – der Wandmalerei Choose to be Happy im Großformat – gestaltet, die schon seit zehn Jahren als charakteristisches Wahrzeichender unbebauten Baulücke am Platz Vítězné náměstí im Prager Stadtviertel Dejvice hervorsticht. Die Besucher können hier nicht nur die Geschichte der Realisierung der berühmten Pastas Mural Art, sondern auch einige seiner jüngsten Bild-Adaptationenkennenlernen.
Die Ausstellung 20th Century Cabinet befindet sich in der Galerie Villa Pellé und ist bis 25. Juli 2021 zu sehen.
Sind Sie vom Mitgefühl ermüdet?
Unsere Zeit wird durch (vorwiegend negative) Informationen, Nachrichtensendungen und Aktualitäten geprägt, die wir wahrnehmen, um auf dem Laufenden zu bleiben, und auf die wir auch gewisermassen reagieren. Unser Wahrnehmungsvermögen hat allerdings seine Limite, denn wir besitzen keine grenzenlose mentale Kapazität. Deshalb spricht man oft von sogenannter Mitgefühlmüdigkeit, also einem Gemütezustand, in dem jede weitere brennende Nachricht nur noch mit erschöpfter Resignation wahrgenommen wird.
Eine Ausstellung, die sich gerade mit diesem Thema befasst und in der Galerie Rudolfinum beherbergt wird, wurde verlängert. Eine Serie von narrativen Videos und Filmen von mehreren internationalen Künstlern bringt Themen wieRassenintoleranz, Arbeitsausbeutung, Neubewertung historischer Narrative, Sexualität, Gender, gefallene und wie gefundene Utopien oder abstraktes Denken als notwendige Bedingungen für eine rationale Urteilskraft. Die Ausstellung soll ein ruhiger Ort zur eigenen Interterpretation dieser Themen sein, die wir unter normalen Umständen von Massenmedien relativ agressiv serviert bekommen. Sie bietet Raum für eine ganz andere Art von Aufmerksamkeit undgemütlicher Wahrnehmung, in dem man sich zum Nachsinnen wieder begeben kann (und nicht nur deshalb, weil der Eintritt kostenlos ist).
Die Ausstellung Compassion Fatigue Is Over befindet sich in der Galerie Rudolfinum und ist bis 8. August 2021 zusehen.
Ein Mann, der das Desinfektionstor passierte
Im September 2020 wurde der Czech Press Photo Award ausgerufen. Der Wettbewerb wurde durch die Covid-Pandemie in organisatorischer als auch in thematischer Hinsicht beeinflusst. Zum Foto des Jahres wurde eine Fotografie von Roman Vondrouš (Tschechische Presseagentur), die einen Mann darstellt, der ein Desinfektionstor passiert. Das Foto im Großformat wurde zum Symbol des Pandemiekampfes und es gibt wahrscheinlich nur sehr wenige Menschen, die es nicht zum Sehen bekommen haben. Nun kann man endlich die Fotografie live genießen. Siegesfotos aus allen Kategorien sindim Nationalmuseum ausgestellt, das die Ausstellung Czech Press Photo sogar zum ersten Mal beherbergt.
Roman Vondrouš, Mann, der durch das Desinfektionstor geht. Foto: Roman Vondrouš, ČTK.
Der Mann im Desinfektionstor war aber natürlich nicht das einzige Foto mit dem Coronavirus-Fokus. Zu weiteren Fotos zählt auch der Zyklus Prager Panoptikum von Jan Rasch, der in der Kategorie Grant Praha 2019 den Sieg errang. DerAutor dokumentierte hier das mit Touristen überfüllte Zentrum, mit der Coronavirus-Pandemie bekam er jedoch die einzigartige Möglichkeit eine ganz unterschiedliche Situation zu dokumentieren. Erwähnungswert ist auch dieangeschlossene Ausstellung Drei Blicke mit der Fotoauswahl der ausländischen Jury. Es handelt sich um international anerkannte Fotografen, die während ihrer Berufsbahn in wichtigen Momenten der Neuzeit mit dabei waren und denen es gelang diese Momente in ihren Fotografien zu erfassen.
Die Ausstellung Czech Press Photo befindet sich im historischen Gebäude des Nationalmuseums und ist bis 31.Oktober 2021 zu sehen.
Hier finden sie den Text in der tschechischen Sprache.