Wie Hippies zu Bürgern werden

Jan Bílý, ein renommierter tschechischer (aber eigentlich tschechisch-deutscher) Gesellschaftskommentator und Experte für Systemaufstellungen, über seine Jahre in einem Land, das (manchmal) vom Richtigen ziemlich besessen ist.

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Schau, die Schweizer haben eine Schwäche für ihre Landwehr. Deshalb üben sie andauernd Schießen. Also folge nur dem Lärm, wo geschossen wird, da ist die Schweiz. Wir treffen uns auf der anderen Seite, in dem Dörfchen, wie wir es vereinbart haben, ich werde im Auto auf dich warten“, rät mir mein Freund und einstiger Mitschüler Franz, der seit langem im Land der Alpengipfel, der Schokolade und Präzisionsuhren lebt. Er steigt in den Wagen und verschwindet hinter der Kurve. Vor mir liegen Felder und Wälder. Und irgendwo in der Ferne, woher Schüsse erschallen, die Schweiz. 

Es ist der 25. April 1976, und ich emigriere. Um genau zu sein, bin ich schon gestern emigriert, als ich meinen Theaterkollegen mitteilte, dass ich die Gruppe verlassen und im „Westen“ bleiben werde. Ich hatte ungemeines Glück und durfte in letzter Minute mit dem Nationaltheater Prag auf Reise nach Schweinfurt, Deutschland, gehen. Ich war Ersatzmann für einen Bühnenarbeiter und wurde daher nicht von der Geheimpolizei „perlustriert“. Natürlich wusste ich vom ersten Augenblick an, dass ich nicht in die besetzte Tschechoslowakei zurückkehren würde. Und nun stehe ich an der deutsch-schweizerischen Grenze und bin im Begriff, diese illegal zu überqueren, denn die Schweizer haben mir vor einer Stunde in Basel höflich, aber deutlich zu verstehen gegeben, dass ich ohne Visum nicht in ihr Land gelassen werde. Somit muss ich über die „grüne Grenze“. Hurra.

Ein Emigrant

Es ist April und das Wetter ist tatsächlich wie im April. Oder vielmehr wie im Februar, und das ganz plötzlich. Es beginnt stark zu schneien. Ich trage tschechische Tennisschuhe aus Leinen, die langsam nass werden. Nach zwei Kilometern treffe ich auf etwas, das ich als Grenzstein identifiziere. Der Schnee verwandelt sich in einen Schneesturm. Nach einem weiteren Kilometer finde ich einen weiteren Grenzstein. Bin ich also wieder zurück in Deutschland? Die Schüsse kommen aus zwei oder sogar drei Richtungen. Oder ist es ein Echo? Ich laufe weiter und denke, jetzt könnte ich Schneeschuhe gebrauchen. Als ich einen weiteren Grenzstein unter einer Schneedecke entdecke, möchte ich fast weinen. Wenn jetzt irgendein Grenzsoldat auftauchen würde, gern würde ich mich ergeben. Aber nirgends eine Menschenseele.    

Ich will Sie nicht auf die Folter spannen – ich habe es letztlich in die Schweiz geschafft, nachdem ich fünf Stunden in der Nähe von Lörrach herumgeirrt bin. Und ja, die Grenze ist hier voller Windungen und Mäander. Franz war außer sich vor Angst, aber als ich endlich auftauchte, bis auf die Haut durchnässt, war er so froh, mich lebend zu sehen, dass er mich umarmte und auf die Wange küsste. Eben ein alter Freund. Wir fuhren zu seinem Vater, wo er mich zurückließ, weil er an seine Universität in Zürich musste. Nur war die Schweiz, wie sich schnell herausstellte, für mich, einen einundzwanzigjährigen Rebellen und Künstler, kein Land, in dem ich bleiben wollte. Ein Nachbar schnitt den Rasen mit einer Papierschere, damit die Grashalme präzise ausgerichtet waren, und das im Regen! (Ja, es regnete ununterbrochen. ) Also kehrte ich zurück nach Deutschland.

Diesmal fuhr ich, dem Schicksal völlig ergeben, mit dem Zug. In Basel kam ein deutscher Zollbeamter in das Abteil. „Die Dokumente, bitte.“ Ich wusste, dass ich  spätestens jetzt verhaftet werde.  Hatte ich doch kein Visum für die Schweiz! „Danke“, er reichte mir meinen Pass mit der Bemerkung, „Wissen Sie, dass Ihr Visum für Deutschland morgen abläuft?“ „Ja“, murmelte ich. „Dann wünsche ich Ihnen eine gute Reise. Auf Wiedersehen“, und er ging. Ich sank in den weichen Sitz und dachte: „Das ist Freiheit. Hier möchte ich bleiben.“

Und das habe ich getan. Nach einer Stunde Herumschlendern durch die luxuriösen Vororte Frankfurts endete ich müde in einer Art Villenviertel. Dort ging ich zur örtlichen Polizeistation und bat in gebrochenem Englisch um politisches Asyl. Ich war der erste Flüchtling aus dem Osten, der vor diesen netten Polizisten erschien. Sie reichten mir einen Kaffee und Kuchen und begannen zu telefonieren, was sie mit mir wohl anstellen sollten. In diesem Augenblick begann meine Karriere in Deutschland, die siebenundzwanzig Jahre dauerte. 

Kinder auf Versammlungen

Deutschland in den späten 1970er Jahren war für mich das wahre Paradies. In Stuttgart, wohin ich bald gelangte, saßen und faulenzten Gruppen junger Leute gemütlich im Schlossgarten, jagten sich Hunde, planschten Kinder im Schlossbrunnen. Vielerorts wurden Gitarren gespielt und in der Luft lag ein Hauch später Flower-Power- oder Make-love-not-war-Stimmung. 

Ich habe bald Deutsch gelernt und bin den Grünen beigetreten. Die politische Arbeit machte mir unheimlich viel Spaß – nachts haben wir (nicht ganz legal) Plakate geklebt und lustige Blockaden gegen die amerikanische Pershing ausgedacht. Auf Parteiversammlungen spielten kleine Kinder und stillten die Mütter. Den Zebrastreifen überquerte man, wenn von links und rechts nichts kam, auch bei Rot. Und ein Freund von mir, ein schwarzer nigerianischer Universitätsprofessor, der wie ich politisches Asyl erhalten hatte, kam eines Tages lachend herein und erzählte mir, dass dort, wo er Arbeit gefunden hatte, in der Abteilung für tropische Früchte in einem Kaufhaus, eine schwäbische Großmutter ihrer Enkelin Angst machte, dass sie dieser „Teufel“, wie sie ihn nannte, holen würde, wenn sie nicht brav sei. Niemand war politisch korrekt, aber kaum jemandem störte das.

Damals verdiente ich meinen Lebensunterhalt mit meiner Kunst, mit der Gestaltung von Bühnenbildern, mit Grafikdesign und manchmal auch mit Beratung. Ich tauschte Stuttgart gegen ein Jahr in Hamburg (zu wenig Licht), sieben Jahre in Freiburg (in vino veritas), später noch einige Zeit im Saarland  und schließlich in Köln am Rhein. 

Langsam änderten sich aber die Zeiten. Die Kinder hatten schon längst keinen Zugang mehr zu „Parteitagen“, weil sie störten. Mit ihnen gingen auch die stillenden Mütter. Übrig blieben die Funktionäre und Funktionärinnen. An den Fußgängerübergangswegen stand man bei Rot, selbst wenn die Straße an Sonntagen völlig autofrei war. Denn so ist das richtig. In den Parks durfte man nur auf dem Teil der Wiese sitzen, auf dem es ausdrücklich erlaubt war. Frei laufende Hunde verschwanden. Und all dies geschah Schritt für Schritt, von der Mehrheit unbemerkt, und mit der hieb- und stichfesten Begründung, dass sei zum Wohle aller. Das Leben wurde in gewissem Sinne „diszipliniert“. Manche sagten „verantwortungsvoll“. Aber dadurch wurde es, zumindest für mich, irgendwie grau.

Damit wir uns richtig verstehen – ich bin kein überalterter Anarchist, der Vorschriften ignoriert und dem staatliche Macht gegen den Strich geht. Ich zahle meine Steuern auf den Heller, ich gehe wählen und ich fahre nicht bei Rot über die Ampel. Ich trage mein Haar kurz geschnitten und denke immer noch, dass Umweltbewusstsein sinnvoll ist. Die vorgeschriebene Geschwindigkeit überschreite ich höchstens um zehn Stundenkilometer – na ja, sagen wir manchmal auch um fünfzehn; da gibt es ja noch keine Punkte. 

Aber ich beschäftige mich auch seit zwei Jahrzehnten mit Systematik, den Gesetzen der Totalität und  dem Wechsel von Stimmungen in der Gesellschaft. Ich bin davon überzeugt, dass jede Macht, ob staatliche oder korporative, ständig versucht, sich zu konsolidieren und zu vervollkommnen, und dass das einzige Gegengewicht zu dieser Macht das ist, was mein Vater „Bauernverstand“ nannte. Das heißt, eine Art angeborene Abneigung des Volkes (nicht nur der Bauern), sich nicht ALLEM unterzuordnen, was die Obrigkeit anordnet. Nennen Sie es, wenn Sie so wollen, natürlichen Ungehorsam. 

Als ich also sah, wie zwei Polizisten einen rodelnden Vater auf einer verhältnismäßig menschenleeren Skipiste verfolgten, weil er und sein Nachwuchs keine Masken trugen, kam mir der beunruhigende Gedanke, wie weit Gehorsam führen kann. Und ob wir durch das „Richtigtun“ nicht einen Ast unter uns absägen, auf dem wir sitzen.

So sprach Mephisto

Vor kurzem habe ich ein Seminar gegeben, in dem wir uns mit der altisländischen Edda und ihren Mythen beschäftigten. Meine Seminare sind nicht nur theoretisch – ich arbeite mit systemischen Aufstellungen, und so bietet sich ab und an eine unerwartete und tiefgreifende Einsicht in die Thematik. Und eine solche Erkenntnis, die keinen Anspruch auf Wahrheit oder Objektivität erhebt, möchte ich am Ende dieser Essay mit Ihnen teilen. 

Wie wir wissen, war Loki ein Gott, der ständig damit beschäftigt war, das Gleichgewicht von Gut und Böse, von Licht und Schatten herzustellen. Ein sehr widersprüchlicher Gott. Als die Götter begannen, Balder zu bewundern, den überaus guten Sohn Odins, der die Verkörperung des Lichts, des Guten und der Wahrheit war, stiftete Loki Balders Bruder Hödur an, Balder zu töten. Das ging den Göttern zu weit, und so fesselten sie Loki. Wer würde dafür kein Verständnis haben? Doch dadurch haben sie den Schatten, die Dunkelheit, eben die Kehrseite aus der Welt geschafft, ohne die es aber keine „Vorderseite“ geben kann. Fenrir, dem Wolf, war schon vorab der Garaus gemacht worden, und so hatte es für eine Weile den Anschein, als würde Ruhe herrschen. Was jedoch folgte, war Ragnarök, die Götterdämmerung, das Ende der Welt, das rasende Eindringen des missachteten Bösen in die Welt der guten und verantwortungsbewussten Bürger. Pardon, der Götter. So haben sich diejenigen, die es gut meinten, selbst geschadet. Möglicherweise machen wir es ihnen gleich.

Zu guter Letzt: Ist es nicht gerade Mephisto, der in Faust sagt: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“?

Und so wünsche ich Ihnen, uns allen, dass wir immer beide Seiten sehen. Was nicht bedeutet, die Kehrseite mögen zu müssen, und schon gar nicht, dass es gut wäre, ihr zu folgen. Aber sie verlangt Verständnis und Wertschätzung. Denn sonst wird sie uns (und sich selbst) nach einer Phase der scheinbaren Ruhe auffressen.

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