🇨🇿 Tento článek si můžete přečíst i v češtině: Sonja Griegoschewski: S Goethem po světě
Die Aussicht aus ihrem Direktorzimmer auf den Hradschin kann kaum eindrucksvoller sein. Aus dem Jugendstilgebäude am Moldau-Ufer, wo einst die DDR ihre Botschaft hatte, leitet Sonja Griegoschewski seit November 2021 gemeinsam mit Prag noch weitere acht Goethe-Institute in der Region Mittelosteuropa. In über dreißig Jahren arbeitete sie in verschiedenen Ländern und Positionen für die weltweit aktive deutsche Kulturorganisation. Nach vielen Jahren in weiter Ferne freut sie sich sehr, wieder in Europa zu sein.
Geboren in Berlin-Charlottenburg, galt ihre Liebe früh der Literatur und dem Schreiben. Da ein Studienplatz für Journalismus schwer zu finden war, entschied sie sich für einen Abschluss als Diplom-Bibliothekarin an der Freien Universität Berlin. Ihre Diplomarbeit über das Centre Pompidou in Paris weckte die Reiselust und brachte den ersten längeren Auslandsaufenthalt. „Ich bin mit der Mauer um Berlin aufgewachsen. Als Westberlinerin konnte ich frei reisen. Trotzdem hatte ich seit meiner Kindheit das Gefühl, auf einer Insel zu leben und wollte hinaus in die Welt”, beginnt Sonja Griegoschewski unser Gespräch. Dass sie den Mauerfall als Berlinerin nicht dort, sondern in Paris erlebte, bezeichnet sie bis heute als tragisch.
Nach zwei Jahren bei der Berlin-Forschung bot sich die Gelegenheit, längerfristig ins Ausland zu gehen. Sie bewarb sich beim Goethe-Institut und übernahm nach kurzer Einarbeitung in der Münchner Zentrale die Bibliotheksleitung in Zagreb: „Ich kam Anfang 1992 nach Kroatien, kurz nach Beginn des Krieges im ehemaligen Jugoslawien. Der Flughafen war geschlossen, die Stadt abgedunkelt und voller Flüchtlinge. Ich war vierundzwanzig und kannte den Krieg nur aus dem Geschichtsunterricht. Am ersten Arbeitstag zeigte man mir den Luftschutzkeller und meine Gasmaske. Das waren sehr intensive und prägende Jahre. Als der russische Angriffskrieg in der Ukraine begann, kamen viele Erinnerungen hoch.” Das Zagreber Goethe-Institut blieb im Gegensatz zu anderen europäischen Kulturinstituten nach Kriegsausbruch durchgehend geöffnet und setzte sein Programm fort, auch im benachbarten Bosnien und Herzegowina. „Es gab noch kein Internet, die Menschen waren in der Enklave Sarajevo von der Welt abgeschnitten. Sie waren hungrig nach Informationen von außen und dankbar für jede Ablenkung, auch wenn es nur ein Buch oder eine Filmvorführung waren“.
Nach fünf Jahren in Kroatien stand eine erneute Versetzung an, und Sonja Griegoschewski zog als Teil des Gründungsteams nach Johannesburg, Südafrika. Enthusiastisch erzählt sie mir noch heute von der allgemeinen Aufbruchstimmung unter dem frischgewählten Präsidenten Nelson Mandela. „Es gab soviel Hoffnung. Alle waren nach den langen Jahren der Apartheit optimistisch. Für mich persönlich war es eine spannende und schöne Zeit, diesen Neubeginn mitzuerleben und ein Goethe-Institut von Grund auf mit aufzubauen.
In Südafrika erlebte ich auch erstmals ein Land im Umbruch, den Versuch mit der Wahrheits- und Versöhnungskommission die Schrecken des repressiven, rassistischen Systems zu verarbeiten und eine Regenbogennation zu schaffen. Leider hat sich vieles nicht erfüllt.”
Das Leben in Südafrika brachte aber auch neue Perspektiven auf Europa: „Ein Land mit elf offiziellen Amtssprachen, dazu zahllose weitere Sprachen und Dialekte. Eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen afrikanischen Kulturen, europäische Einflüsse, große indischstämmige und jüdische Communities; eine wunderschöne Natur, endlose Weiten, dazu die Me-tropole Johannesburg. Plötzlich merkt man, wie klein die eigene Welt war.”
Diese Eindrücke verstärkten sich fünfzehn Jahre später in ihrer Zeit als Institutsleiterin, erst in Toronto, Kanada und später in Sydney, Australien.
„Man lernt Europa nicht mehr als den Nabel der Welt zu sehen. In den dortigen Diskussionen sind Asien, speziell China, Indien und der pazifische Raum sehr präsent. Die Folgen der Kolonalisierung und der andauernde Kampf der indigenen Bevölkerung um Anerkennung und Gerechtigkeit. Als Leiterin des Goethe-Instituts gilt es in diesen Kontexten viel zu lernen, viel zuzuhören, um gemeinsame Themen und Interessen zu identifizieren. Offenheit und Dialog waren immer Grundsätze unserer Arbeit. Die sich aktuell verschärfenden Positionen im politischen Raum treffen aber auch den Kultur- und Bildungssektor. Unsere über Jahrzehnte aufgebauten Netzwerke werden zum Teil auf eine harte Probe gestellt. Aber gerade jetzt bleiben der Austausch und unsere Arbeit wichtig.“
Ob ihr in Prag etwa die weite Welt mit ihren speziellen Herausforderungen fehle? Nein!
„In Australien habe ich gemerkt, wie weit ich von meiner Familie und Deutschland entfernt bin. 28 Stunden Flug! Daher bin ich sehr froh, wieder für einige Jahre nach Europa zurückzukehren. Leider hatte ich vor meiner Versetzung nach Prag kaum Gelegenheit in Tschechien und Mittelosteuropa zu reisen. In Prag war ich erstmals 1993. Mein Wissen besaß ich überwiegend aus Büchern und Filmen. Dabei sind unsere Länder Nachbarn, unsere Geschichte und Kultur eng verwoben. Da gibt es vieles nachzuholen und zu entdecken.
Prag ist ein wunderbares Beispiel für den europäischen Reichtum an Kultur, Kultureinrichtungen und Universitäten. Von Literatur über Musik bis zu herausragenden Museen, Theatern, Opernhäusern – gleich drei davon allein in Prag! Viele Länder, besonders außerhalb Europas, beneiden uns um diese Fülle, unser gut erhaltenes und gepflegtes kulturelles Erbe.“
Aber auch in anderen Teilen des Landes und der Region ist sie viel unterwegs und spricht zum Beispiel mit Begeisterung von ihrer ersten tschechischen Dienstreise, die sie zu einer Ausstellungseröffnung nach Olomouc führte.
„Es ist für mich ein großes persönliches und berufliches Privileg, mich ausführlicher mit Tschechien befassen zu dürfen, viele Menschen kennenzulernen und hoffentlich etwas dazu beizutragen, dass das Verhältnis zwischen beiden Ländern weiterhin gut bleibt. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine und der Wiederaufstieg rechtsradikaler Parteien waren für meine Generation lange Zeit undenkbar.”
Für Sonja Griegoschewski und ihren Mann war es sehr einfach, sich in Prag einzuleben. „Man fühlt sich schnell vertraut, kann die Stadt in wunderschönen Spaziergängen entdecken, teilt eine gemeinsame Geschichte und Kultur.“ So auch im Fall von Franz Kafka. Der 100. Todestag im Juni 2024 ist der Anlaß für einen Programmschwerpunkt des Goethe-Instituts: „Kafka war für mich eine Wiederentdeckung. Ich habe einige Texte in der Schule gelesen, doch erst hier in Prag, ist er für mich lebendig geworden.“ Worin beruht ihrer Meinung nach Kafkas Stärke und Aktualität? „Kafka ist leider sehr früh verstorben, daher bleibt viel Raum für Fantasie und Interpretation. Er bearbeitet zeitlose Themen wie Entfremdung und Einsamkeit, Bürokratie und Machtmißbrauch, Angst und Schuld. Als deutschsprachiger Jude in Tschechien vereinigte er verschiedene Identitäten. Viele Menschen können seine Zerrissenheit und Zweifel auch heutzutage nachempfinden. Wunderbar war für mich jedoch die Entdeckung mir unbekannter Seiten des Autors: Sein Humor – er liebte die Filme von Charlie Chaplin, seine Liebe zum Schwimmen – er war im Sommer immer braungebrannt – und seine Fahrten auf dem Motorrad. Das will so gar nicht zu dem blassen, ernsten Gesicht auf den Fotografien passen. Das weltweite Interesse im Jubiläumsjahr freut mich daher sehr, und es gilt den Menschen Franz Kafka und sein Werk aufs Neue zu entdecken.“
Informationen über das Goethe-Institut und sein Programm: www.goethe.de/tschechien
Dieser Artikel erschien in der sechsten Ausgabe des Printmagazins N&N Czech-German Bookmag