Blick von der Potsdamer Straße Foto: Ⓒ Simon Menges
Die Erneuerung und der Ausbau historischer Gebäude ist meiner Meinung nach eine eigene und spezifische Kategorie in der Architektur. Es geht nicht nur darum, einen Ausdruck für das Projekt selbst zu finden, sondern das Wesen des renovierten Objekts zu erkennen und seine erneuerte oder neue Funktion zu definieren. Gleichzeitig geht es um das Gleichgewicht zwischen dem Bewahren und Ergänzen. Das Geheimnis des Erfolgs liegt im Detail, in der inneren Harmonie von Geschichte und Gegenwart. Ohne Einfühlungsvermögen und Ideenreichtum, technisches Geschick und Ehrerbietung ist es unmöglich, ein gutes Ergebnis zu erzielen. Unser Büro widmet sich programmatisch diesem Thema gewidmet, und wenn ich Architekten nennen sollte, die Meister auf diesem Gebiet sind, würde ich das Büro von David Chipperfield an einen der führenden Plätze setzen.
Deshalb hat es mich gefreut, den Kollegen, die an der Renovierung der Neuen Nationalgalerie, einem der ikonischen Gebäude von Mies Van der Rohe in der Architektur des 20. Jahrhunderts, beteiligt waren, einige Fragen stellen zu können. Sicherlich lag ihnen auch das Interesse zugrunde, ob wir einige der Praktiken, Überlegungen oder Fragen teilen, die wir uns bei der Arbeit an der Renovierung und dem Ausbau historisch bedeutender Bauwerke stellen, ggf. inwieweit wir andere Ansichten haben.
Blick von der Potsdamer Straße, 1968 Foto: Ⓒ Archiv Neue Nationalgalerie, Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Reinhard Friedrich, kostenfrei
Die Antworten sind nicht nur eine interessante Geschichte über die Entstehung, die Architektur und die Geschichte dieses bemerkenswerten Gebäudes, sie decken sich in vielerlei Hinsicht mit unseren eigenen Erfahrungen und spiegeln dieselben Schlussfolgerungen und Bewertungen der Arbeit eines Architekten wider, der sich mit der Renovierung moderner Architektur beschäftigt. Sie zeigen, dass der Schöpfer bei solch komplizierten Aufträgen die Grenze überschreiten muss, sachkundiger Vermittler eines großen, fachlich komplexen Teams mit Experten vielen Berufsgruppen zu sein. Wir sind uns einig, dass ein qualitativ hochwertiges Ergebnis nur auf der Grundlage eines guten, kultiviert geführten Dialogs erzielt werden kann, dessen Ergebnisse sich in der endgültigen Form des Gebäudes widerspiegeln. Über die Erfahrungen und Erkenntnisse aus unserer Arbeit sprachen wir mit dem Architekten Martin Reichert vom Berliner Büro Chipperfield Architects.
Bei der Sanierung historischer Architektur versuchen wir stets, uns mit der Geschichte des Gebäudes vertraut zu machen, den Kontext, in dem es entstanden ist, sowie die sozialen und technischen Faktoren, die zur Entstehung der Architektur beigetragen haben, zu verstehen. Ist das auch bei Ihnen der Fall? Inwieweit recherchieren Sie, studieren die Details der Entstehung, historische Pläne, Texte von Architekten über ihr Werk?
Wie Sie wahrscheinlich wissen, war die denkmalgerechte Sanierung der Neuen Nationalgalerie unsere erste Auseinandersetzung mit einem Gebäude der Nachkriegsmoderne. Zuvor hatten wir uns eine Dekade lang in großer Intensität mit einem Hauptwerk des eklektizistischen Spätklassizismus beschäftigt. Der Wiederaufbau der Ruine des Neuen Museums auf der Museumsinsel in Berlin ist eine komplexe und vielschichtige Komposition aus der Restaurierung und Reparatur des Vorhandenen und einer kongenialen Nachschöpfung des Verlorenen im Sinne einer entwerfenden Denkmalpflege; ein methodischer Entwurfsansatz, welcher auf die kriegsbedingte Fragmentierung und die heterogenen Erhaltungszustände zu antworten versuchte.
Die Ausgangslage bei der Neuen Nationalgalerie war eine grundlegend andere. Mies van der Rohes Schluss- und Höhepunkt der Auseinandersetzung mit dem Typus des Pavillons und dem Universalraum war in großer visueller und materieller Vollständigkeit überliefert und bot damit keinen Anlass für eine Weiterentwicklung und wenig Raum für Interventionen. Wie beim Wiederaufbau des Neuen Museums waren wir auf der Suche nach einem radikalen Statement im Umgang mit einem Baudenkmal von hoher Strahlkraft.
Das Büro von David Chipperfield (Bild) hat eine wirklich detaillierte Studie über das Gebäude erstellt: Es hat mehr als 4000 Pläne und weitere Unterlagen aus den 1960er Jahren zusammengebracht. Foto: Ⓒ Benjamin McMahon
Geleitet vom Bemühen um ein radikales Projekt ohne Kompromisse, das nicht zu einer Veränderung des Gebäudes im Detail oder einer neuen architektonischen Schicht führt. Wir beschlossen, unsichtbare Architekten zu werden und Mies van der Rohe als alleinigen Schöpfer zu respektieren, indem wir das Gebäude nicht visuell, sondern nur im Hinblick auf seine Nutzbarkeit umgestalteten.
Am Anfang von allem stand die Suche nach dem, was getan werden muss, um das Ziel zu erreichen. Um die Aufgabenstellung zu verstehen, organisierten wir eine Reihe von Workshops mit allen, die etwas im Projekt zu sagen hatten – die Restauratoren, Denkmalpfleger, Techniker, Kuratoren, das Wartungspersonal – und fragten sie nach ihrer täglichen Arbeit, nach ihren Erfahrungen mit dem, was hier gut funktionierte, und ebenso nach den Mängeln. Auf der Grundlage dieser Unterredungen haben wir ein “Handbuch der Nutzer-Anforderungen“ erstellt, das alles enthielt, von den für die Ausstellungen erforderlichen klimatischen Anforderungen bis hin zu den Bedingungen für Wartung und Reinigung. Parallel hierzu erfolgte eine sehr detaillierte Archivrecherche, wir sammelten und scannten über viertausend Pläne, Dokumente, Sitzungsprotokolle aus den 1960er Jahren, auch Telegramme, Fotos, Filme anhand derer wir versuchten die Planungs- , Bau- und Nutzungsgeschichte sowie deren Entscheidungsprozesse zu verstehen.
Die Zusammenfassung der Archivrecherche war ein 200-seitiges Dokument, das einen umfassenden Überblick über die archivierten Unterlagen bietet. Die eigentliche Untersuchung wurde direkt im Gebäude durchgeführt, in deren Rahmen die Daten historischer Elemente sowie Mängel und Unzulänglichkeiten ermittelt wurden. Wir haben ergänzend in einem „Thesenpapier“ die denkmalpflegerischen Leitlinien für den Umgang mit dem Haus formuliert. Und schließlich haben wir ein Team mit den wichtigsten Projektbeteiligten zusammengestellt, die aktiv am Entscheidungsprozess beteiligt werden sollten, die Vertreter des Bauherrn, des Nutzers, der Denkmalpflege, der Planenden und mit ihnen allen sind wir in die Vereinigten Staaten und nach Kanada gereist, um mehr oder weniger alle Gebäude aus der amerikanischen Schaffensperiode von Mies van der Rohe zu besichtigen, zu der auch die Nationalgalerie in Berlin zählt. Uns hat interessiert, inwiefern sie sich ähneln und inwiefern die Berliner Galerie anders ist.
In der Regel bereiten wir uns auf große und komplizierte Projekte in ganz ähnlicher Weise vor, was aber ein außergewöhnliches Erlebnis sein musste, war die Möglichkeit, dass Sie die Objekte von Mies aus der amerikanischen Periode begehen und physisch erkunden konnten. Welche Besonderheiten haben Sie dort gefunden?
Wir haben uns mit den jeweiligen Architekten, Eigentümern und Nutzern getroffen und viel darüber gesprochen, wie seine Bauwerke erhalten werden können. Wir haben festgestellt, dass die Gebäude aus dieser Zeit von der Ambivalenz zweier Hauptaspekte geprägt sind, die wir auch in der Nationalgalerie wiederfinden. Der erste ist der sehr klassische Ansatz für den oberirdischen Teil, den man als Tempel auf einem Podium beschreiben könnte, mit allen Attributen der klassischen Architektur, einschließlich wertvoller Materialien wie Marmor, Granit oder Bronze. Der zweite hingegen ist eine äußerst pragmatischer, ganz in der damaligen Gegenwart verankerter Ansatz, bei dem im Sammlungsgeschoss handelsübliche Gipskartonplatten, Tapeten und Strahler verwendet werden.
Mehr als 35.000 Bauteile der Neuen Nationalgalerie wurden während der sechsjährigen Sanierung demontiert, restauriert und an ihre ursprüngliche Position zurückgeführt. Foto: Ⓒ Simon Menges / Ludwig Mies van der Rohe / VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Meiner Meinung nach sind beide Aspekte gleichermaßen wichtig und zu erhalten. Sie zeigen, dass Mies sich nicht nur auf die Tempelarchitektur, den universellen Raum und die zeitlose Dimension der Architektur fokusierte, sondern sich auch mit sehr pragmatischen Fragen der Funktionalität des Museums als Institution, beschäftigte. Dies ist sehr typisch für viele seiner Gebäude in Amerika: eine universelle Halle im Erdgeschoss und ein sehr zweckmäßiges, pragmatisches Untergeschoss. Die Nationalgalerie in Berlin bildet den Abschluss einer Reihe von realisierten und nicht realisierten Projekten dieses Pavillontyps. Von den realisierten würde ich Montreal und Chicago nennen, das eine ist ein Postamt, das andere eine Bank. Beide werden von einer Haupthalle dominiert, die entsprechend ihrer Funktion mit festen Einbauten ausgestattet ist.
Die Bauaufgabe des Museums eröffnete für ihn die Möglichkeit, die Halle als großen, leeren Raum zu gestalten, der in Material und Gestaltung auf seine Vorgänger verweist, aber gleichzeitig in seiner Leere sehr spezifisch ist. Eine nachhaltig wirkende Erfahrung der Reise betrifft die mehrheitlich sehr pragmatische Herangehensweise bei der Sanierung der Bauten von Mies in den USA. Bei Defiziten, für die es derzeit keine befriedigende technische Lösung zur Abhilfe gibt, etwa die bauphysikalischen Schwächen der Stahl-Glas-Fassaden, wird auf tiefgreifende Maßnahmen verzichtet.
Man akzeptiert diese Eigenheiten als Teil der Beschaffenheit des Denkmals und arrangiert sich mit ihnen. Diese Haltung widerspricht dem in Deutschland kulturell tief verwurzelten Perfektionismus, der jede Imperfektion auf die Höhe der gegenwärtigen technischen Standards anheben möchte selbst um den Preis, dass die spezifischen Bauteile dadurch geopfert werden. Sie nehmen nur dann Ausbesserungen vor, wenn sie eine wirklich gute Lösung haben, wobei sie die Unzulänglichkeiten, die dem Gebäude innewohnen, respektieren. Es ist ein sehr entspannter Ansatz. Von der Amerikatournee haben deshalb auch die Schlussfolgerung mitgebracht, dass wir die Teile, die für den Denkmalwert von zentraler Bedeutung sind und bewahrt werden sollten, von den Teilen trennen, die wir verbessern oder ersetzen wollen.
Der letzte Teil hat mich wirklich amüsiert, denn ich glaube, wir haben die gleiche Schule, wenn es um die technisch verantwortungsvolle Restaurierung historischer Architektur geht, ich weiß also, wovon Sie sprechen. Doch zurück zur Architektur selbst. Die Neue Galerie ist das einzige Gebäude, das Mies seit seiner Emigration in die USA in Europa errichtet hat. Es wurde in den Jahren 1963 – 1968, in der Zeit des Kalten Krieges, gebaut. Hängt das Ihrer Meinung nach damit zusammen, dass Berlin ein Synonym für eine geteilte Welt, für Unabhängigkeit und Freiheit im Denken des Teils der Welt war, dem Mies angehörte, oder war das eher ein Zufall und Berlin hatte einfach Glück?
Ich würde sagen, dass die Einladung an Mies durch die Stadt Berlin eine starke politische Proklamation war, motiviert durch die Vision, dass Kultur und verständlicherweise auch Architektur eine große erzieherische Kraft haben. Der Bau der Galerie nur 200 Meter von der Berliner Mauer entfernt war ein Manifest des demokratischen West-Berlin, liberal und weltoffen, das die Rechte einer freien Gesellschaft dem diktatorischen Regime der damaligen DDR entgegen setzte. Mies war politisch nicht sehr engagiert, sondern vertrat eher grundsätzliche Positionen des europäischen Humanismus. Als Architekt war er weder formalistisch noch zynisch.
Sein Gebäude ist ein Monument für Mies’ Verständnis von kulturellen und menschlichen Werten, und in seinem Sinn ist es sicherlich ein demokratisches Gebäude, mit einem öffentlichen Podium und einem direkten Zugang zur Hauptausstellungshalle. Letztere hat keinen Eingangsbereich, keine Lobby. Sie ist äußerst zugänglich und ihr Layout widerspricht allen Konventionen. Es gibt hier keine Anweisungen, wie man sich im Raum bewegt, alles ist dem Ermessen des Besuchers überlassen. Es ist ein freier Raum für freie Menschen.
Ein weiterer Blick in das Berühmte Gebäude. Foto: Ⓒ Simon Menges
Das ist interessant. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass der Mies-Bau in Berlin die Werte der westlichen Welt, ihre Freiheiten, Freizügigkeit und Zugänglichkeit in ihrer allgemeinsten Form verkörpert. Das war der Eindruck, den ich als Architekt, der in der sozialistischen Tschechoslowakei aufgewachsen ist, bei meinem ersten Besuch hatte. Aber ich war auch von einem anderen Phänomen angezogen, das Sie erwähnten, nämlich dem Gebäude als kulturelle Errungenschaft. Zum Zeitpunkt seiner Entstehung war Mies bereits sehr berühmt und galt als eine Ikone der modernen Architektur. Berlin wollte seine Realisierung auf jeden Fall auf seinem Territorium, in diesem Teil der Welt, als ein Beispiel für etwas sehr Zeitloses haben, das nicht nur Mies van der Rohe, sondern die moderne Architektur als solche repräsentiert. Darauf beziehen sich auch meine weiteren Fragen.
Es gibt Leute, die sagen, dass Mies’ Häuser Manifeste sind, Architektur auf der Suche nach Perfektion, die sich oft gegen ihre Funktion oder ihre Nutzer richten kann. In der Tschechischen Republik gibt es berühmte Geschichten über die Familie Tugendhat in Brno, der vom Architekten verboten wurde, Gegenstände frei zu platzieren oder den Garten zu verändern, um die geniale Komposition des Hauses nicht zu stören. Auch die Neue Galerie in Berlin wurde zur Zeit ihrer Entstehung kritisiert, weil sie alle Ausstellungsprinzipien negierte und eher ein Objekt für sich war. Ich persönlich bin da anderer Meinung, denn die Qualität seiner Arbeit und die Horizonte, die er den Architekten eröffnete, werden auch heute noch entdeckt, und die Berliner Galerie von Mies hat bewiesen, dass sie nicht nur ein schönes und zeitloses, sondern auch ein sehr funktionales Gebäude ist. Insbesondere die Betonung der Gartennutzung, die Verschmelzung und Integration von Außen- und Innenraum der Galerie sind einzigartig.
Sind Sie der gleichen Meinung oder standen Sie vor der Aufgabe, die betrieblichen Anforderungen, denen das Gebäude nicht genügte, neu zu überdenken und neu zu gestalten?
Die zeitgenössische Rezeption des Bauwerks war sehr gemischt. Lange Zeit wurde es als sehr eigenartiges Gebäude, l‘art pour l’art wahrgenommen, als eine große Halle, die eine Obsession des Architekten ist, sehr schön, aber mehr oder weniger unbrauchbar. Ich glaube, das Projekt war viel radikaler als das, worauf die Öffentlichkeit in den 1960er Jahren vorbereitet war. Mies war jedoch der erste Architekt, der zwei grundverschiedene Dimensionen des zeitgenössischen Museums erkannte: die erste ist die Institution, die sich mit der Sammlung befasst und im Untergeschoss angesiedelt ist und sehr gut organisiert und durchdacht angelegt ist. Die zweite ist der Showbetrieb der Wechselausstellungen. Deshalb hat er seine Halle als große öffentliche Vitrine konzipiert.
Die Ausstellung ist nicht verborgen, man kann sie sogar von außen sehen, ohne dass man eintreten und Eintrittskarten kaufen muss. Es dauerte einige Zeit, bis das Museum diese Möglichkeit und Chance erkannte. Es begann mit konventionellen Ausstellungen kleiner Mondrian-Gemälde, die mit den Bedingungen der Halle, insbesondere mit dem vielen Tageslicht und dem großen Raum, nicht zurechtkamen. Der Wendepunkt war die Panamarenko-Ausstellung in den 1970er Jahren, mit dem großen frei im Raum schwebenden Zeppelin. Mit dieser Ausstellung änderte sich die Ausstellungskonzeptionen, und das Museum begann, entweder direkt ortsbezogene Installationenen in Auftrag zu geben, die für die Ausstellung in der Halle geeignet waren, oder die Ausstellungen so zu kuratieren, dass sie dem Raum der Halle entsprach.
Ein Blick in den Ausßenbereich der renovierten Neuen Nationalgalerie. Foto: Ⓒ Simon Menges / Ludwig Mies van der Rohe / VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Kann man also sagen, dass Mies einmal mehr seine Fähigkeit bewiesen hat, seiner Zeit voraus zu sein? Um eine Art von Galerie zu schaffen, die erst fünfzehn oder zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung verwendet und nachgeahmt wurde?
Ja, dem würde ich zustimmen, die Galerie wird allgemein als das Ende der internationalen Moderne wahrgenommen, ihre radikale Dimension wurde lange Zeit übersehen, unterschätzt. Mies schuf die Ausstellungshalle als Bühne, was zu seiner Zeit sehr radikal für die Idee eines Museums war. Eine öffentliche Bühne, die eine eigene Szenografie erforderte.
Und auch die starke Idee, die Sie als “Kunstvitrine“ bezeichnet haben, etwas, das von außen sichtbar ist, das eher eine Werbung ist, eine Einladung, einzutreten, um zu sehen, was sich darin verbirgt. Es ist nicht nur ein Raum, in dem Kunst ausgestellt wird, sondern auch ein Raum für die Interaktion zwischen den Kunstwerken in allen Formen, mit den Besuchern oder, wenn Sie so wollen, mit den Konsumenten, die oft Teil des Programms werden. Interaktive Ausstellungen sind für uns heute alltäglich, und Architekten gehen mit dieser Einstellung an die Gestaltung von Galerien heran, aber in Wahrheit waren sie in den 1960er Jahren etwas ganz Außergewöhnliches.
Ja, und er war auch einer der ersten, der die Bedeutung des Museums als gesellschaftlichen Ort erkannte, was von Anfang an auch die Terrasse und der Ausstellungsgarten einschloss. Es war das, was wir heute zum Beispiel von der Turbinenhalle in der Tate Modern in London kennen, nämlich ein Raum, in dem man sich trifft und verweilt, ohne das eigentliche Museum betreten zu müssen.
Holz, Stein, Glas und Stahl – das passt zusammen. Foto: Ⓒ Simon Menges / Ludwig Mies van der Rohe / VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Aber zurück zur Denkmalpflege und zum Denkmalschutz. Wie schwierig ist das in Berlin? Für uns in Prag ist das sehr interessant, weil der Denkmalschutz in unserem Land ein eigenes Kapitel in der Arbeit eines Architekten ist.
Wir haben ein zweigleisiges System, die Denkmalabteilung des jeweiligen Stadtbezirks und dann das Amt des Oberkonservators. Grund ist die föderale Verwaltungsstruktur Berlins, in der die Stadtbezirke in vielerlei Hinsicht autonom sind. Und dann gibt es noch die dritte Säule, den Landesdenkmalrat, der sich mit Bauwerken von hohem Wert befasst. Die Denkmalpflege ist auf die Teilnahme am Prozess fokussiert. Es geht nicht darum, dass sie vor dem Umbau schriftliche Erklärungen oder Stellungnahmen abgeben, sie sind an der Arbeit unmittelbar beteiligt, sie sind Teil der Verhandlungen und der Entscheidungsfindung. In unser Projekt waren sie voll und tiefgreifend eingebunden, nahmen an allen Verhandlungen mit dem Bauherren und den Nutzern teil und waren gleichberechtigte Mitglieder des Arbeitsteams.
Gleichzeitig bedeutete dies, dass die Diskussionen sehr zeitaufwändig waren und oft Hunderte von Stunden für einzelne Punkte in Anspruch nahmen. Außerdem hatten wir hier eine ganz besondere Situation, denn der Auftraggeber hat den Mies-Experten Fritz Neumeyer eingeladen, mit uns zusammenzuarbeiten, und schließlich den Enkel von Mies van der Rohe, der Inhaber der Urheberrechts ist und somit ein wichtiger Gesprächspartner war. Gleichzeitig hat er uns aber sehr geholfen und sich intensiv am gesamten Prozess beteiligt. Wir hatten nie die geringsten Meinungsverschiedenheiten, es gab nie eine Situation, in der wir uns darüber stritten, wer der bessere Architekt sei. Insgesamt war die Konstellation des professionellen Teams also nahezu ideal, mit einem allgemein geteilten Verständnis für die Notwendigkeit, so viel wie möglich von Mies zu bewahren, sowohl im Hinblick auf die visuelle Integrität als auch auf die physische Beschaffenheit der einzelnen Elemente. Es ist sehr selten, dass sich eine ähnlich gut kooperierende Gruppe zusammenfindet, die über genügend Zeit und Geld für die Arbeit verfügt. Das ist etwas, wovon man normalerweise nur träumt.
Die Anpassungen des Ausmaßes sind äußerst integral und auf den ersten Blick kaum wahrnehmbar. Sie sind gering, selbst im Vergleich zum Ausmaß der Interventionen bei Ihren anderen Projekten, bei denen Sie sich mit dem Verhältnis zwischen den historischen und den neuen Schichten in der Architektur befassen. Liegt das an den Anforderungen des Auftrags, dem Denkmalschutz des Gebäudes, oder vor allem an Ihrem Respekt vor dem Werk von Mies van der Rohe und seinem Erbe?
Die Auswahl des Architekten erfolgte auf der Grundlage eines internationalen Wettbewerbs auf europäischer Ebene. Wir kennen den Ansatz der anderen Wettbewerber nicht genau, aber unsere Absicht, keine architektonische Schicht hinzuzufügen oder die Morphologie der Mies’schen Architektur zu verändern, war in ihrer extremen Form einzigartig. Ich denke, man hätte uns erlaubt, mehr Interventionen vorzuschlagen. Wir haben uns zum Ziel gesetzt die Halle nicht anzutasten, sondern sofern es nötig wird, Änderungen und Modifikationen nur im Souterrain vorzunehmen. Das haben wir auch getan, wie Sie wissen, haben wir die Kunstdepots für die neue Garderobe und den Bookshop umgenutzt. Wir haben auch über eine Umstrukturierung des Verwaltungsbereichs und die Lage des Cafés für die Besucher diskutiert, aber letztendlich haben wir die Anordnung aus den 60er Jahren beibehalten, weil sie wirklich gut war.
Wie Sie selbst wissen, hat der Architekt bei einem Restaurierungsprojekt zwei Aufgaben. Die eine ist der Planung, die andere, und vielleicht noch wichtigere, die Moderation der Diskussion, die Verfolgung des gesetzten Ziels und die Auflösung von Konflikten. Die Fähigkeit, diese komplexen Prozess zu managen, ist für den Erfolg des Projekts entscheidend. Sie können ein hervorragender Architekt sein, aber ohne soziale Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit bei der Moderation der Diskussion wird das nicht funktionieren. Zu einer guten Moderation gehört auch die Fähigkeit, Vorschläge nicht gleich als erste Reaktion abzutun. Im Übrigen ist, wie Sie selbst in Ihrer Einleitung schreiben, Einfühlungsvermögen wichtig, ebenso wie die Fähigkeit zuzuhören, abzuwägen und Vorschläge zu machen, eine zivilisierte Debatte zu führen und am Ende das Ziel, in unserem Fall Mies, zu sehen. Denn sein ursprüngliches Konzept ist so gut und so überzeugend, dass es weder strukturelle Verbesserungen noch Interventionen erfordert.
Bei der Planung haben wir schnell festgestellt, dass sich das “Fleisch“ zwischen „Haut“ und „Knochen“ nur schwer erhalten lässt. Zur Sanierung der „Knochen“, also des Rohbaus, war es erforderlich die „Haut“ nahezu komplett zu demontieren und später wieder zu replatzieren. Das dazwischen mussten wir ersetzen. Nicht, dass es sich dabei um besonders wertvolle Dinge gehandelt hätte, das waren die Leitungen, Rohre, Schächte, die Estriche und Gipsplatten. In Bezug auf unseren Anspruch das Gebäude in seinem zeugniswert als Ganzes zu erhalten, gab es also Abstriche. Das ist, denke ich, das Drama der Rekonstruktion von Gebäuden des 20. Jahrhunderts. Beim Neuen Museum war das aus dieser Sicht viel einfacher. 1,2 m dicke Mauern, in denen alles versteckt werden kann, in die eingedrungen werden kann. Das erlaubt die fragile moderne Architektur nicht. Das gilt doppelt für die Architektur von Mies mit ihrem extremen normativen System, dem strengen Raster, das sich durch das gesamte Gebäude zieht und es nahezu unmöglich macht, etwas zu verändern. Sie sind in diesem ausgeklügelten System gefangen.
Moderne Kunst in der Neuen Nationalgalerie. Foto: David Chipperfield Architects
Es ist gut zu hören, dass Sie denselben Gedankengang wie wir bei unseren jüngsten Renovierungsprojekten von Gebäuden moderner Architektur durchlaufen haben. Letztendlich haben auch wir uns für eine präzise Erneuerung einer starken Architektur entschieden, wobei wir nicht versucht haben, jedes einzelne Detail in seiner historischen Form und Ausführung zu erhalten. Meiner Meinung nach ist die moderne Architektur vor allem ein Zeugnis modernen Denkens, neuer Formen und Prinzipien, ihrer Entdeckung und Umsetzung in Architektur. Es geht nicht so sehr um die Aufbereitung von Einzelheiten, wie wir es bei Gebäuden aus früheren historischen Epochen versuchen, die die Spuren handwerklicher, heute unersetzlicher Arbeit tragen.
Vor allem bei unserem letzten Projekt, dem Palast der Elektrounternehmen in Prag, haben wir sogar die gängigen Klischees in Bezug auf die architektonische Restaurierung durchbrochen, und durch lange und beharrliche Diskussionen mit den Denkmalpflegern ist es uns gelungen, eine Renaissance der Architektur in ihrer ursprünglichen Form zu erreichen, wenn auch mit einer Reihe kleinerer Änderungen, dem Austausch von Konstruktionen und Elementen. In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf Ihre Bemerkung über die Rolle des Architekten eingehen, der zwischen den oft divergierenden Parteien mit unterschiedlicher technischer oder ästhetischer Sicht der Sache steht. Wie Sie halte auch ich sie für essentiell, um ein gutes Ergebnis zu erreichen, übrigens habe ich diesem Thema in meinem letzten Buch Historische und zeitgenössische Architektur ein ganzes Kapitel gewidmet.
In den letzten Jahren hatten wir die Gelegenheit, an der Restaurierung und Fertigstellung von Großprojekten in Prag mitzuwirken, die von der außerordentlichen Wirtschaftskraft und dem Erfindungsreichtum der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit zeugen. Zu ihrer Zeit galten sie als Vorbild für die europäische Architektur, als Ausdruck einer neuen Sicht auf die Welt und ihre Möglichkeiten. Auf den ersten Blick sind sie ebenso großzügig und zeitlos, doch für mich gibt es einen Unterschied zwischen ihnen und den Projekten von Mies. Ich sehe ihn vor allem in der unglaublichen, fast pedantischen Konsequenz, mit der er sich auch dem letzten Detail gewidmet hat. Und was noch bemerkenswerter ist, ich kann mich an kein Projekt erinnern, das in seiner langen Karriere nicht mit einem ähnlichen Maß an Präzision realisiert wurde. Es geht nicht nur um ein Kanon, eine brillante Arbeit mit Materialien und deren Proportionen, sondern eine Art innere Logik der Bauwerke, die einerseits maximal auf dem Wissen der Mechanik und der Bauindustrie basiert, andererseits leicht und transparent ist.
Eine Gemäldeausstellung´in der Neuen Nationalgalerie. Foto: David Chipperfield Architects
Sind Sie der gleichen Meinung und was würden Sie an dem Gebäude als Beweis für Mies’ Handschrift hervorheben?
Ich würde nicht sagen, dass es über das Konzept und die ingenieurtechnisch kühne Hallenkonstruktion hinaus etwas Außergewöhnliches gibt. Im Untergeschoss geht es vor allem um das Layout und die Proportionen. Das Gesamtdesign ist virtuos, aber Sie werden keine besonderen Details finden. Alles wurde schon anderswo erprobt, selbst die Treppen sind eine Nachbildung des Art Institute. Die Einzigartigkeit des Bauwerks ergibt sich nicht aus den Details, sondern aus dem Gesamtkonzept, das die Galerie so besonders macht.
Ich habe den Eindruck, dass wir uns dem Ende nähern, aber ich werde trotzdem fragen. Gibt es etwas, das Sie Architekten und den Liebhabern von Architektur mitteilen möchten, ein Erlebnis oder eine Erfahrung, die Sie bei der Arbeit an der Restaurierung des Gebäudes gemacht haben?
Schwierige Frage. Wir haben gelernt, dass ein gutes Ergebnis nicht ohne einen guten Prozess zustande kommt. Man kann mit einem geringen Budget oder einer kurzen Zeitspanne auskommen, aber Prozesse, Vertrauen und zivilisierte Diskussionen zwischen den Partnern sind der Schlüssel zum Erfolg eines Projekts. Das ist wahrscheinlich die Hauptsache.
Das war ein schönes Nachsinnen über das Werk von Mies van der Rohe, über Architektur als Zeugnis, über die Vision und die Arbeit an ihrer Restaurierung und über die Position des Architekten in einem großen Team. Es bleibt uns nur, uns gegenseitig zu unseren Bauwerken einzuladen und uns gegenseitig viele erfolgreiche Projekte und interessante Menschen bei deren Realisierung zu wünschen. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, auf Wiedersehen in Prag und Berlin.