Dieses Interview wurde in dem vom N&N Magazine produzierten Buch Die Mauer zwischen uns veröffentlicht, das die Geschichten von Tschechen in Deutschland und Deutschen in der Tschechischen Republik beschreibt und für die Frankfurter Buchmesse 2021 nominiert ist.
In der Nähe Ihrer Wohnung in Berlin befindet sich das Brücke-Museum. Es ist den Werken der gleichnamigen Malergruppe gewidmet, die 1905 gegründet wurde. Sie wollte eine Brücke sein für die Künstler und die gespaltenen Kunstrichtungen und sie in die Moderne tragen. Alte künstlerische Konventionen sollten damit überwunden werden.
Ich respektiere das Symbol der Brücke als Verbindung zwischen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Polen. Aber ich habe den Eindruck, dass Brücken in letzter Zeit gewissermaßen inflationär auftreten. Das Problem ist auch, dass sie von vielen mit Füßen getreten werden. Für mich ist der Begriff „Kulturvermittler“ für diese Verbindung treffender. Das war ein Phänomen, das es schon in den 1920er Jahren gab. Diese Leute pendelten zwischen den Sprachen und vermittelten einen gemeinsamen Kontext. Die Bereicherung besteht darin, die Dinge auch sprachlich zu betrachten, also nicht nur inhaltlich. Sprachen bringen eine eigene Symbolik und Logik der Be- trachtungsweise mit, häufig auch Neologismen und Offenheit gegenüber anderen Einflüssen. Das alles hilft dabei, neue Herangehensweisen zu finden und der Gesellschaft neue Horizonte zu eröffnen. Ich glaube, dass wir ohne Brücken nirgendwo hingelangen, und dass es keine Brücke ohne Menschen geben kann. Aber für mich ist die Betonung des Menschen, der seine Nachrichten über die Brücke trägt, wichtiger.
Ebenso zu den Vermittlern gehören eindeutig Schriftsteller. In den 60er Jahren kam es zu einer interessanten Annäherung zwischen der tschechischen und der deutschen Kultur. Ich glaube, dass es weder davor noch danach noch einmal eine solche Nähe gegeben hat. Die Kulturvermittler haben zum Beispiel den Deutschen gezeigt, wer Bohumil Hrabal ist, und dem tschechischen Publikum, wer Grass, Böll, Enzensberger sind. Mein Vater war solch ein wichtiger Vermittler. Er hat diese Schriftsteller nicht nur übersetzt, sondern war auch mit vielen befreundet. Das war wieder so ein Moment, in dem es nicht nur um das Werk als solches ging, sondern auch um den Willen, den Schaf- fensprozess gemeinsam zu teilen und Potenzial dort zu suchen, wo Kunst ernst genommen wird. In den 70er und 80er Jahren sind diese deutsch-tschechischen Kontakte nach und nach erloschen, und in den 90ern begann man wieder von vorne. Wenn mich heute etwas interessiert, dann die Suche nach diesem Potenzial – auch wenn wir vermutlich nie mehr so glückliche Momente wie in den 60er Jahren erleben werden, als vielerlei künstlerischer Ansätze aufeinandertrafen und die Bedeutung der Literatur und der Literaturzeitschriften unfassbar höher war als heute. Dennoch glaube ich, dass auf freundschaftlicher Basis in der Kunst, die die Beziehung zur Welt um uns herum ausdrückt, eine solche Suche möglich ist. Man sollte alles dafür tun, um zu inspirieren und inspiriert zu werden.
Danuše Siering und Tomáš Kafka.
Im Prosatext von Franz Kafka „Die Brücke“ ist der Mensch die Brücke und stürzt am Ende ein.
Wir leben in einer Zeit, in der der Mensch viel ertragen muss, und es wird immer mehr. Manchmal kann er zusammenstürzen wie eine Brücke. Auf der anderen Seite braucht diese Brücke den Menschen, um einen Sinn zu haben, damit jemand irgendwohin aufbrechen kann. Das ist so eine kafkaeske Symbiose. Ich sehe die Brücke als eine Konstruktion, auf der ein Mensch steht – der Vermittler.
Sie haben Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ übersetzt. Braucht Europa Vorleser, oder sind wir so stark, dass wir alleine lesen können?
Um uns herum gibt es viele Inspirationen und Ideen. Jeder kann alleine „lesen“, aber in unserer Umgebung ist zu viel los. Daher ist es gut, jemanden zu haben, der uns eine Vorstellung davon vermittelt, was interessant ist, wofür es Sinn macht sich zu interessieren, welche Dinge man nicht verpassen sollte, weil sie interessant sind und uns weiterbringen können. Man kann sie vielleicht auch als Guru, als Begleiter oder eben als Vorleser bezeichnen, weil es so viele Ideen und Inspirationen gibt, dass sich ein normaler Mensch darin einfach verirren muss.
Ihr Lieblingsautor Hans Magnus Enzensberger ermahnt uns dazu, dass wir uns nicht zu ernst nehmen sollen.
Nicht nur deshalb ist Enzensberger für mich ein großes Vorbild. Er wurde gefragt, wie es sein könne, dass seine Taten seine Integrität nicht rückwirkend beeinträchtigen. Er antwortete, dass er sich nie ernst genommen habe, nie seriös gewesen sei. Das war der wichtigste Motor der Moderne. Hier brauchten auch die Deutschen, die dazu tendieren, sich ernst zu nehmen, unbedingt jemanden wie Enzensberger. Er wurde 1929 geboren, konnte oft in ideologische Extreme abrutschen, aber dennoch stand er aufgrund seines guten Geschmacks immer über den Dingen. Die Fähigkeit, sich in Schlüsselmomenten zurückzunehmen, ist etwas, was für die Ausbildung eines deutschen Intellektuellen besonders wichtig ist. Wir kommen heute langsam in eine Situation, in der wir uns in Europa zu ernst nehmen. Überall wird in so absoluten Dimensionen von Werten gesprochen, dass es bald schon riskant ist, sich auf diese Debatten einzulassen, weil sie früher oder später in persönlichen Angriffen enden. Umso mehr benötigen wir jemanden wie Enzensberger, der uns aus diesen persönlichen Debatten und Angriffen herausführen und zeigen könnte, dass wir uns nicht so ernst nehmen sollen, auch wenn das Thema ernst ist. Die EU ist zu wichtig dafür, um sich nur ernst zu nehmen. Wir brauchen jemanden, der durch seinen Geschmack und Intellekt garantieren kann, dass er uns einen anderen Horizont als den unmittelbaren Streit zeigt, bei dem es nur darum geht, wer sich durchsetzt. Wir sollten Debatten nicht um des Siegesgefühls willen gewinnen wollen, denn schließlich kann auch der andere Recht haben.
Mit Sicherheit ist auch Ivan Kraster, ein bulgarischer Politologe, der in Wien lebt, ein Kulturvermittler. Er kann den heutigen Zeitgeist hervorragend beschreiben, und ich kann ihn nur zur Lektüre empfehlen. Ich bin ein pathologischer Optimist und glaube fest daran, dass es mehr solcher Leute gibt, aber wir suchen sie vielleicht nicht oder nehmen sie nicht wahr. Manchmal wissen wir erst im Nachhinein zu schätzen, dass es hier so jemanden gab und dass er uns unterbewusst inspiriert und angeleitet hat.
Tomáš Kafka mit dem ehemaligen tschechischen Botschafter in Deutschland František Černý.
Die deutsch-tschechischen Brücken zwischen uns.
Für mich ist es wichtig, ein Umfeld des Vertrauens aufzubauen, in dem man offen sprechen kann, in dem wir gemeinsam darauf hinarbeiten können, dass man die Dinge auch anders sehen kann und darf. Diese kollektive Sicht auf die Dinge ist interessanter, weil die Menschen dann mehr zu schätzen wissen, dass sie Teil des gesellschaftlichen Verständnisses sind. Das ist ein besseres Gefühl, als wenn uns jemand Anweisungen erteilt. In den deutsch-tschechischen Beziehungen halte ich es für wichtig, den Diskussionen freien Lauf zu lassen, darauf zu vertrauen, dass wir gute Nachbarn sind und gelernt haben, dass uns das etwas Gutes bringt. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Verständnis die Bezie- hungen konsolidiert und sie widerstandsfähig genug macht. Und es darf nicht alles von oben reguliert werden, weil die Leute dann den Spaß daran verlieren. Es ist schon immer ein großes Plus, wenn man bereit ist zu kommunizieren und zuzuhören – das sollten wir beibehalten. Dann werden wir zu einer Säule der Stabilität in Europa. Es darf allerdings nicht der Eindruck entstehen, dass jeder alles alleine retten muss. Als ich nach Berlin gekommen bin, wurde ich gefragt, was ich denn alles vorhabe. Ich habe gesagt, dass ich auf keinen Fall ein Fußballspieler sein will, der sich selbst die Pässe zuspielt, das Tor schießt und das noch dazu alleine feiert.
David Bowie hat einmal gesagt, dass das einzige, was er gerne besitzen würde, Kunst ist. Er ist auch gern ins Brücke-Museum gegangen, und zu seinen Lieblingsbildern gehörte Erich Heckels „Roquairol“. Das Gemälde wurde zur Inspiration für das Cover von „Heroes“. Wer sind heute Ihre Helden?
David Bowie ist mein Hero. Er war der Picasso der Musik, ein Chamäleon, das durch seine Verwandlungen die Musik in Dimensionen erhob, in denen er sich selbst manchmal verlor. Hans Magnus Enzensberger ist mein Hero, der es mir einfacher gemacht hat, Deutschland zu verstehen, weil er es in einer Form vermittelt hat, die ich mir gerne angehört habe. Václav Havel ist mein persönlicher Held. Er hat es mir ermöglicht, meine Beziehung zur Tschechoslowakischen Republik zu klären. Als er Präsident wurde, musste ich nicht mehr dauernd über meine Beziehung zum Staat nachdenken. Wenn Havel nicht gewesen wäre, wäre ich niemals in den Staatsdienst gegangen. Ich habe eines festgestellt: Dadurch, dass ich vor allem Havel dienen wollte, habe ich am meisten mir gedient. Und dafür sollten Helden sorgen – dass ihr Heldentum so diskret ist, dass die Menschen in ihren eigenen Augen, wenn schon nicht zu Helden, so doch zu anständigen Menschen werden können.