🇨🇿 Tento článek si můžete přečíst i v češtině: Když sedíš na lavici po odsunutých Němcích
Als ich 2002 nach siebenundzwanzig Jahren Emigration von Deutschland nach Prag zog, strahlte auf der Prager Burg noch immer Havels Herz und wir Tschechen waren bei unseren westlichen Nachbarn willkommen und beliebt, nicht nur wegen unseres Präsidenten – dem Literaten mit kurzen Hosen, der hunderttürmigen Stadt Prag oder wegen Karel Gott mit seiner goldenen Stimme. Die Deutschen sahen uns im Allgemeinen als angenehme und zuverlässige, wenn auch etwas anarchistische Nachbarn. Kürzlich stieß ich jedoch auf ein Gruppenfoto von EU-Vertretern, die zu einem Treffen in Salzburg zusammen gekommen waren. In der
Mitte stand dort der junge österreichische Ministerpräsident – ein gut aussehender Mann, neben dem französischen Präsidenten – einem gut aussehenden Mann, und ein wenig links der Fixstern der Europapolitik, Bundeskanzlerin Merkel. Babiš habe ich eine Zeitlang vergeblich gesucht. Erst als ich das Foto vergrößerte, fand ich unseren Ministerpräsidenten – er stand ganz rechts, am Rande der Gruppe, vergessen und ohne Einfluss. Sie sagen – ein Zufall.
Wahrscheinlich ja, aber trotzdem frage ich mich, was in diesen siebzehn Jahren eigentlich so Schreckliches passiert ist, dass man in Deutschland nicht mehr viel über uns spricht. Und weshalb meine deutschen Freunde unseren Weg nicht verstehen und uns deshalb lieber aus dem Bewusstsein verdrängt haben. Um auf diese Frage eine Antwort zu finden (natürlich subjektiv und ohne historische Wahrheiten zu beanspruchen), muss ich in der Zeit etwas zurückgehen.
Servus Bayern
Es ist Mitte der 1980er Jahre und ich sitze in einem dunklen Kino. Draußen tobt die Berlinale, das berühmteste Filmfestival des damaligen West-Berlins, doch gerade dieses Kino ist nahezu leer. Hier läuft „Kunst“, also Kunstfilme abseits des großen Ruhms.
Herbert Achternbusch hat gerade „Servus Bayern“ gedreht. Der Hauptprotagonist gelangt nach schrecklichen Peripetien nach Grönland, wo er jodelnd durch die Gletscher segelt (ja, die gab es dort damals noch), um schließlich versehentlich von seinem Freund Sepp Bierbichler erschossen zu werden, der ihn für einen Eisbären hielt. Es ist das poetische Ende eines bayerischen Dichters, der zeitlebens von Schuldgefühlen für das, was die Deutschen der Welt angetan haben, heimgesucht wird. Und so löst er es auf bayrische Weise.
Er setzt sich in den Kopf, dass er für jeden ermordeten Juden einen Režná-Kräuterschnaps trinken muss.
Fünfeinhalb Millionen Stamperl…
Und ich bin echt glücklich, praktisch allein im Kino zu sein, weil ich weine. Ich bin sehr angetan von der deutschen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, ich bin beeindruckt vom Schicksal dieser Nation, in die ich eigentlich zufällig geraten bin. Ich wollte wegen der Mädchen nach Schweden, oder nach Australien wegen der sicheren Distanz von den Kommunisten, aber irgendwie bin ich in Deutschland geblieben. Und es ist mir ans Herz gewachsen.
Sind Sie Tscheche?
Jetzt werde ich so einen Filmschnitt machen und uns ein paar Jahre später in meine Heimat, in den Böhmerwald, versetzen, wo ich mit meiner damaligen Schönheit auf Langlaufskiern durch Berge und Täler sause. Soeben machten wir Halt in einem eingeschneiten Dorf bei einer entlegenen Kneipe. Drinnen ist es warm, halbdunkel, und beim Bier sitzen ein paar schweigende Geister. Und so kommen wir mit dem Wirt ins Gespräch, zunächst über das Thema der uralten und schön geschnitzten Bänke. Sobald ich erwähne, dass ich laut Personalausweis eigentlich Deutscher bin, ändert sich irgendwie die Atmosphäre. „Aber Sie sind Tscheche, oder nicht?“, fragt er mich. „Na so zur Hälfte, ich habe dort so lange gelebt, dass ich ein wenig domestiziert wurde“, versuche ich zu scherzen. Blöder Witz, denn die Luft wird noch dicker. Und plötzlich verstehe ich weshalb. Schöne Holzbänke, respektable Eichenbalken, ein Kachelofen – das alles ist von Deutschen, genau wie das ganze Bauernhaus. Und dem Wirt sitzt, fünfzig Jahre nach Kriegsende, immer noch die Angst im Nacken, dass die Deutschen eines Tages zurückkehren könnten. Wir zahlen und laufen rasch weiter.
Hier stand unser Hof
Und drittens. Ich habe in Stožec, was eigentlich schon gänzlich „deutscher“ Böhmerwald ist, ein Seminar über Familienkonstellationen. Es ist Sommer und wir konstellieren und kochen und schlafen unter freiem Himmel, unweit eines namhaften Hotels, dessen private Wiese wir samt einer Art Unterstand gemietet haben. Gegen Abend kommt ein älteres Ehepaar vorbei und schaut neugierig zu, was wir dort machen. Da es ein privates Grundstück ist, nehme ich an, dass sie sich dorthin verlaufen haben. Ich komme mit ihnen ins Gespräch und siehe da – es sind Deutsche. Und so erkläre ich ihnen auf Deutsch, was Konstellationen sind und dass wir Familiensysteme schaffen. Die Dame interessiert das ungemein.
„Ich zeige Ihnen etwas, das Sie interessieren wird“, sagt sie und zieht irgendwoher ein altes vergilbtes Foto hervor. „Wir haben uns nicht verlaufen, ich wollte meinem Mann zeigen, wo ich geboren wurde.
Schauen Sie, genau hier, wo Sie diese Konstellationen machen, stand unser Bauernhof.“ Und ich schaue auf das Foto von einem Gebäude, vor dem so eine Großfamilie versammelt ist, die da steht, wo wir sind und wo jetzt weit und breit nur noch Weidefläche ist. Ich erzähle, dass eine der Teilnehmerinnen deutsche Vorfahren hat und dass altes Unrecht mit Hilfe von Konstellationen ausgesöhnt werden kann.
„Das ist gut“, sagt die weißhaarige Dame und fügt einen seltsamen Satz hinzu, den ich schon lange nicht mehr auf Deutsch gehört habe – „Gott segne Sie dabei.“ Sie verschwindet mit ihrem Mann im Zug zur nahe gelegenen Heidmühle, und meine Augen sind wieder feucht.
Die Schuldfrage
Haben alle großen Nationen auch große Schuld? Wahrscheinlich nicht. Frankreich feiert Bonaparte, Amerika breitet sich stolz auf dem Territorium der Indianer aus, und es gibt nicht wenige Russen, die Stalin für einen ziemlich guten Führer halten. Nur bei den Deutschen war das, zumindest bis vor kurzem, etwas anders. Als ich mit meiner (deutschen) Freundin in der Bretagne war, gingen wir in eine alte Kirche, aus der das Spiel einer Orgel zu hören war. Diese befand sich etwas ungewöhnlich in einer der Seitenkapellen. Vor ihr saß ein blinder Organist, der, als er einige unserer leise geflüsterten deutschen Wörter vernahm, eine Improvisation der deutschen Hymne intonierte. Sie erblickte das Licht der Welt als liebliches Streichquartett, das Haydn 1797 für den (österreichischen) Kaiser Franz II. komponierte.
Und obwohl das „Kaiserlied“ auf der Orgel schön klang, schrumpfte meine deutsche Freundin irgendwie immer mehr in sich zusammen, bis sie schließlich aus der Kirche floh. Sie schämte sich. Sie schämte sich dafür, dass der Blinde sie als Deutsche identifiziert hatte, und nicht als Europäerin, wie sie es sich gewünscht hätte.
Ja, die deutsche Schuld existiert immer noch. Ihren Nachhall können wir erleben, wenn wir mit den Deutschen über Ausländer sprechen, beziehungsweise direkt über die jüngste Welle afrikanischer und arabischer Flüchtlinge. Viele meiner deutschen Freunde sind nämlich rein besessen von der Vision eines vereinten Europas. Als wollten sie aus Scham vor der Nazi-Vergangenheit auch ihre Nationalität abschütteln. Und so ist es vor allem Deutschland, das Europa zusammen mit Frankreich zu einer immer stärkeren Integration drängt. Das kann letztlich aber ins direkte Gegenteil umschlagen, denn Nationen, die den Schock einer fast absoluten Niederlage nicht erlebt haben, wollen ihre nationalen Gefühle nicht gegen etwas paneuropäisches eintauschen. Sie fühlen sich einfach nicht so schuldig, dass sie allen ihreArme öffnen sollten.
Germany not first
Es scheint mir jedoch, dass, wenn eine Nation einen großen Krieg verliert (und nur solchen Nationen dann große Schuld zugeschrieben wird), ihr dies zumindest eine Zeitlang durchaus von Vorteil sein kann. Schuld schmälert uns nämlich, was großen Nationen nicht schadet. Erst das durch die große Niederlage verursachte Trauma verwandelt das Gefühl der eigenen Größe in ein erträgliches Maß. Dieses Trauma, das Deutschland zweifellos erlebt hat, fehlt leider anderen großen Nationen, was die Deutschen gemäßigter und weniger laut macht als beispielsweise die Amerikaner oder die Russen. Zumindest die westlichen. Es ist nur schwer vorstellbar, dass ein deutscher Politiker das aussprechen würde, womit Trump geprahlt hat: „Germany first!“. Oder dass Deutschland, ebenso wie Russland die Krim und die Ukraine, anstreben würde, den französischen Elsass, wo immer noch Deutsch gesprochen wird, zu annektieren. Andererseits ist es gut, dass die deutsche Schuld langsam in Vergessenheit gerät (auch wenn riesige Monumente, wie das Holocaust-Mahnmal in Berlin, sie ständig aufrechterhalten möchten). Denn nur eine gesunde, selbstbewusste Nation kann ihre Interessen umsichtig verteidigen, ohne ihre Nachbarn anzugreifen. Und hier kommen wir vielleicht zu einem Schlüsselbegriff in den gegenwärtigen Beziehungen zwischen Deutschland und meiner Heimat.
Wir sind nicht die zweite Schweiz
Soweit ich weiß, war es Václav Bělohradský, der uns Tschechen irgendwann in seinen Vorträgen als „selbstbewusste Nation“ bezeichnete. Sind wir das wirklich? Unsere schöne Hymne ist definitiv außergewöhnlich.
Ich weiß, dass jeder Patriot in jedem Land das gleiche denkt. Aber keine Hymne, die ich kenne, beginnt mit einer Frage. Nur wir fragen gleich am Anfang „Wo ist meine Heimat?“, als würden wir uns dessen nicht sicher sein. Ich habe einmal in einem meiner Seminare eine Konstellation zum Urvater Böhmens gebaut. Hätte er noch etwas weiter gehen sollen? Hätten wir heute ein Meer? Oder gar ein Stück Schweizer Alpen mit klingelnden Kühen und richtig guter Schokolade? Wer weiß, aber Herr Urvater sah in dieser Konstellation nicht sehr selbstbewusst aus. Er hat nämlich allen gesagt, was sie zu tun haben, und ein selbstbewusster Führer tut das nicht, weil er es nicht tun muss. Seine Autorität beruht auf dem, was die Indianer „friedliche Kraft“ nennen.
Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen – was ist mit der Beziehung zwischen Deutschen und Tschechen geschehen, die größte Veränderung scheint mir darin zu bestehen, dass unser Selbstbewusstsein, und ich meine nicht das laute, chauvinistische, Bierselbstbewusstsein, sondern das tiefe in unserem Geist, in den zwanzig Jahren, die ich hier lebe, irgendwie geschrumpft ist. Also wieder geschrumpft ist.
Nach diesem Ruhm mit der Samtenen Revolution ganz ohne Tote und nach dem es ein paar Jahre den Anschein hatte, als würden wir die zweite Schweiz werden. Nun, die sind wir nicht geworden, und ich denke, dass auch unsere Angst daran schuld ist. Angst vor dem Anderssein, vor dem Fremden und vor Fremden, vor allem vor denjenigen, die ähnlich wie wir, jetzt ihre Heimat suchen – vor Flüchtlingen. Angst vor dieser riesigen und schönen Welt, die sich rund um die Tschechische Republik erstreckt und eine faszinierende Erweiterung dieser schönen Welt innerhalb unserer Grenzen ist. Auch die deutsche Dame in Stožec sah viel ruhiger und irgendwie klarer aus als ein Stück weiter der Wirt im Böhmerwald, denn sie hatte, vielleicht durch den Verlust von allem, schon ihre Angst verloren. Und dadurch vielleicht etwas Wichtigeres gefunden als ihren Bauernhof.
Für Flüchtlinge reicht´s nicht
Vor kurzem hatte ich fast einen Streit mit meinem Freund. Es ging darum, ob wir Tschechen fünfzig syrische Kinder – Waisen – aufnehmen sollten. Mein Freund ist kein Anhänger einer fremdenfeindlichen Partei, deshalb argumentierte er nur, dass es eine leere Geste sei, die nichts lösen würde. Dass ihr Problem dort gelöst werden müsse, wo es entstanden ist.
Dass man gleich zu Anfang ein Stoppschild aufstellen müsse. Und das, und das … Und ich war ganz erstaunt, wie er es nicht verstehen konnte, dass die fünfzig Waisen nicht nur ein Ausdruck dafür sind, dass wir alle Menschen sind und uns gegenseitig helfen sollten, sondern es auch um ein Symbol, eine Metapher unserer Selbstverständlichkeit geht. Dass diese Waisenkinder die letzte und ultimative Gelegenheit unseres Staates sind, den verängstigten und durch die Massenmedien fast in einen Zustand der Hysterie versetzten „einfachen“ Leuten zu sagen: „Habt keine Angst.
Ich bin groß. Erwachsen. Stark. Wir wissen uns zu helfen.“ Stattdessen stehen wir Schlange vor dem Eingang in unsere Burg, denn jener schwache und kranke Mann, der sie bewohnt, fühlt sich so bedroht, dass er überall Metalldetektoren hat installieren lassen und die Polizei angewiesen hat, jeden zu durchsuchen.
Genau das verstehen meine deutschen Freunde nicht. Und ich gebe zu, ich auch nicht. Und so antworte ich, wenn dieses Thema zur Sprache kommt und sie fragen, ziemlich verlegen. Ich versuche, ihnen die Mentalität einer kleinen Nation zu erklären, die die Genialität hatte, tausend Jahre zu überleben.
Und zwar in der Nachbarschaft wirklich großer und manchmal zu selbstbewusster Nationen. Ich verweise auf eine gewisse Arroganz Deutschlands, zum Beispiel gegenüber den „faulen“ Griechen, wohin aber alle „fleißigen“ Deutschen gern in den Urlaub fahren, damit sie vor lauter deutscher Perfektion nicht verrückt werden.
Ich erzähle meinen deutschen Freunden, dass es hier bei uns viele junge und nicht nur junge Leute gibt, die reisen, Sprachen beherrschen und ein freies Europa lieben. Die Freiheit der Sicherheit vorziehen.
Und die sich ihrer selbst ziemlich sicher sind, so dass sie die Grenzen nicht stärken müssen. Aber im Innersten meines Herzens bin ich ein wenig traurig. Traurig, weil es nach diesen dreißig Jahren noch besser hätte aussehen können. Andererseits hätte alles noch viel schlimmer ausfallen können. Was soll ́s.
Dieser Artikel erschien in dem N&N Czech-German Bookmag. Die aktuelle Ausgabe des tschechisch-deutschen Buchmagazins können sie in den tschechischen Buchläden bzw. bei dem Verlag Albatros Media kaufen.