Dorothee Elmiger: Der Text ist Material, das ich zur Verfügung stelle

Genuss, Konsum, Geld, Träume, Lotto, Zucker. Dorothee Elmiger, die erfolgreichste schweizerische Autorin der Gegenwart, wird vor allem für die experimentelle Form ihrer Bücher gelobt, in denen sie überraschende Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen und politischen Themen findet. Der gebürtigen Wetzikerin wurden bereits drei Bücher veröffentlicht, für die sie jeweils eine Nominierung für den renommierten Schweizer Buchpreis erhielt. Ihre Texte wurden in viele Sprachen übersetzt, die Übersetzung ins Tschechische fehlt aber immer noch. Für das N&N Magazin erzählt sie über ihr neustes Werk ‚Aus der Zuckerfabrik‘, über Inspiration und über ihre Wahrnehmung von Kritik.

Dorothee Elmiger Foto: © Peter Andreas Hassiepen

Ihr letztes Buch ‚Aus der Zuckerfabrik‘, das 2020 erschien, weist Züge von Roman, Essay, sowie auch Journal auf. Sie selbst haben das Buch als Recherchebericht bezeichnet. Wie sah diese Recherche denn aus?

Ich pflege eine Form der unsystematischen Recherche, in der auch Zufall, Assoziation und Umweg eine grosse Rolle spielen. Dies deshalb, weil es ein Prozess ist, der so offen bleiben muss wie eben möglich: Ich darf zu Beginn nicht schon wissen, was ich finden will und werde.

Das Buch stützt sich auf eine Szene, sozusagen Schlüsselszene, wo der Lottokönig Werner Bruni – den es auch tatsächlich gab – zwei Frauenfiguren aus schwarzem Stein von Haiti in die Schweiz mitbringt und diese Figuren werden versteigert. Was macht diese Szene so stark für Sie?

Als ich die Versteigerung dieser Figuren in einem Dokumentarfilm sah, wusste ich erst einmal gar nicht, was da genau geschah. Klar, zu sehen ist, wie der frühere Lottogewinner, ein Arbeiter, alles wieder verliert, darunter auch seine Mitbringsel, seine Souvenirs von Reisen. Unter dieser Oberfläche schwingt aber ganz viel mit, das in diesem Moment aufeinanderprallt und die Szene so für mich aufgeladen hat: Hier der europäische Arbeiter, da die karibische Insel mit ihrer wichtigen Geschichte, die Zuckerplantagen, der Dreieckshandel, der europäische „Hunger“, die Frage nach Solidarität. Ich wollte von dieser Szene aus in alle Richtungen denken.

Aus dieser Szene werden viele Faden gezeigt – ich sage bewusst gezeigt, denn sie werden nicht wirklich erklärt. Die Leser*innen müssen selbst suchen, selbst schauen und nachdenken. Haben Sie vielleicht einen Rat oder Tipp für diejenigen, denen es Schwierigkeiten macht?

Vielleicht lässt sich dieses Buch als Notizheft verstehen. Da können Leser*innen auch mal etwas überspringen, und es ist egal, wenn nicht alles sofort eingeordnet oder gedanklich verbunden werden kann. Der Text ist Material, das ich zur Verfügung stelle: Die Leser*innen sollen damit anstellen, was sie wollen.

Als schon erwähnt, den Lottokönig gab es wirklich und das Buch spielt mit der Grenze zwischen Realität und Fiktion. Ist es schwierig, den realen Stoff zu bearbeiten? Ist man dann nicht beim Schreiben beschränkt?

Was mich beschäftigt hat, ist die Frage, ob und auf welche Weise ich mir diese Geschichte „nehmen“ kann: Wie markiere ich die Tatsache, dass es hier um ein Leben geht, das mir – selbstverständlich – nicht gehört, das ich im Prinzip auch nur aus zweiter Hand kenne. Ich musste und wollte mit grösster Behutsamkeit vorgehen. Und es schien mir dann auch wichtig zu sein, ganz transparent zu machen, wenn ich von jener Geschichte, die der Lottokönig selbst erzählt, abweiche und in die Fiktion gehe.

Zucker als Thema spielt auch eine große Rolle, nicht nur als Titel, sondern auch in der Inhaltsebene, wo sie über ungestillten Hunger schreiben. Das alles weist auf unsere Konsumgesellschaft hin. Warum haben Sie gerade Zucker als Leitmotiv gewählt?   

Der Zucker hat sich aufgedrängt: Eine Beschäftigung mit der Geschichte Haitis ist zwingend auch eine Auseinandersetzung mit der Zuckerproduktion. Am Zucker lassen sich die europäische Expansion und die europäische Tätigkeit in der „Neuen Welt“ verfolgen. Die Frage, die mich interessiert hat, war jene danach, wie Genuss und Konsum – und Arbeit – die Kontinente historisch verbunden haben: Versklavte Menschen haben in der Karibik auf den Plantagen den Zucker angebaut, der dann in Europa konsumiert wurde – erst als luxuriöses Genussmittel, später aber auch von breiteren Gesellschaftsschichten. Der Zucker hat also historisch betrachtet diese zwei Seiten, eine mörderische und eine des Genusses.

Im Buch gibt es viele Zitate, unter anderem von Orwell, Flaubert oder Kaschnitz. Waren, beziehungsweise sind diese Autoren beim Schreiben für Sie eine Inspiration?

Lesen und Schreiben gehen für mich Hand in Hand, die Arbeit als Autorin beginnt für mich im Grunde immer bei den Büchern, bei der Lektüre. Im Falle von „Aus der Zuckerfabrik“ und meiner Suche nach bestimmten Tonfällen haben Kaschnitzs Texte und insbesondere ihr Band „Orte“ eine wichtige Rolle gespielt.

Das Buch wurde für Deutschen und auch Schweizer Buchpreis nominiert, hat aber auch einige zurückhaltende Rezensionen erhalten. Sind Sie mit der allgemeinen Rezeption zufrieden? Wie halten Sie sich zu der Kritik?

Ich bin froh, dass ganz unterschiedliche Blicke auf das Buch geworfen wurden: Es ist ja nicht so, dass ich als Autorin selbst keine Zweifel habe an meinen Texten. Jeder Text ist immer auch mangelhaft. Aber dass ein Buch, das – angesichts heutiger Lesegewohnheiten – eher als „sperrig“ gelten muss, so viele Leser*innen findet, das hat mich gefreut.

Planen Sie schon ein neues Werk? Können Sie den Leser*innen eventuell etwas Konkretes verraten?

Dazu kann ich noch nicht viel sagen: Zwar arbeite ich wieder an einem längeren Text, der ist allerdings noch ein einem ganz empfindlichen Stadium.

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