Peter Lange, ARD: Tschechien hat sehr viele ungelernte Arbeiter mit niedrigen Löhnen

Peter Lange ist ARD-Hörfunkkorrespondent für Tschechien und Slowakei. 2007 bis Juli 2016 Chefredakteur von Deutschlandfunk Kultur. Danach ist er in Prag gelandet, seine Familie lebt in Berlin. Er hat sich schon früher für die Mittelosteuropäische Geschichte interessiert. Dr. Peter Lange hat Publizistik, Politik und Geschichte studiert.

Herr Dr. Lange, welches Thema bewegt Sie in den letzten Tagen oder Wochen als deutschen Korrespondenten in Tschechien am meisten?

Jetzt gerade war ich ein paar Tage in Ostrava, worüber ich eine Reportagereihe vorbereite. Ansonsten gucke ich schon mit einem Auge auf die Parlamentswahlen im Oktober, weil ich zwischendurch auch mal Urlaub habe, deswegen sammele ich jetzt schon Material, rede mit einigen Leuten, damit ich vorbereitet bin, den ARD Programmen in Deutschland verschiedene Formate und Themen zu den tschechischen Wahlen zu liefern.

Wenn sie den Vorwahlkampf in Tschechien beobachten und dann nach Deutschland, das auch vor den Wahlen steht, schauen, kann man die Atmosphäre vergleichen?

Grundsätzlich kann man alles vergleichen. Wie ich es beobachte ist der tschechische Wahlkampf viel härter und ein bisschen deftiger als in Deutschland. Also das „Negative Campaigning“, so wie es zum Beispiel Andrej Babis und seine ANO betreiben, ist bei uns eher unüblich

Sie sind jetzt in Tschechien (und in der Slowakei) mehr als fünf Jahre. Wenn sie diese Staaten aus Mitteleuropa mit dem ehemaligen Ostdeutschland vergleichen, sehen sie Ähnlichkeiten durch die langjährige Erfahrung mit dem Sozialismus?

Es ist schwer zu sagen, weil ich nicht mehr regelmäßig in Ostdeutschland unterwegs bin .   Ich höre aber immer wieder die Klage, dass es z. B. immer noch Lohnunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland gibt. Und das gilt häufig als Beleg, dass es mit der Deutschen Einheit immer noch nicht gut steht. Wenn der Blick aber mal nach Tschechien gehen würde und nicht nach Westdeutschland, wäre die Wahrnehmung vielleicht eine andere.  Eine Alternative nach 1989 wäre eine selbstständige Wirtschaftseinheit in Ostdeutschland gewesen, mit billigen Löhnen und attraktiv für Investoren. Aber das hätte bedeutet, das die Ostdeutschen heute vermutlich in der Lage der Tschechen wären, also eine verlängerte Werkbank, wo sich die Einkommensverhältnisse   zum Westen einfach nicht angleichen. Wenn man in Deutschland die Löhne um 3 % erhöht, muss man die Löhne in TschechieN&Nbsp; mindestens um 10 % steigern, um überhaupt Schritt zu halten. Und dieses Problem sehen die Ostdeutschen nicht, die gucken nach Westen und die Tschechen schauen wieder nach Deutschland als das gelobte Land, was es auch nicht ist. Aber ich denke ganz allgemein:  die Tschechen und auch die Slowaken haben einen guten Grund, stolz zu sein auf das, was sie geschafft haben, ohne dass es einen großen Bruder gab, der mit zig Milliarden geholfen hat. 

Es gibt fast überall in Europa rechtsextreme Tendenzen. Bleiben wir aber in Deutschland, wieso ist nach ihrer Meinung nach die AfD gerade in Ostdeutschland so stark?

Von den vielen Erklärungen halte ich die These von der regressiven Moderne für die plausibelste. Ein Teil der Menschen fühlt sich emotional überfordert von den Veränderungsprozessen, die ihnen abverlangt werden: Digitalisierung, Globalisierung und dann jetzt auch noch Klimawandel und Pandemie. Da ist die Versuchung groß, den einfachen Antworten zu folgen und der Sehnsucht nach der angeblich guten alten Zeit, die es in Wahrheit nie gab.

Das ist in Ostdeutschland stärker ausgeprägt als im Westen. Die Brüche nach 1989 spielen auch eine Rolle. Es ist allerdings nicht so, dass wir bei der Anhängerschaft der AfD nur von den „Abgehängten“ sprechen. Die wirkt und hat ihre Wähler inzwischen bis Teile des Mittelschichten-Bürgertums. Auch da ist dieses regressive Verhalten zu beobachten: Der Hang zu den „einfachen“ Lösungen, weil ihnen die Welt zu kompliziert geworden ist

Wie ist die Situation in Westdeutschland?

Es ist nicht viel anders, die AfD ist in allen Landtagen vertreten. Vor ein paar Jahren war es die Migrationsfrage, jetzt geht’s um die Corona-Pandemie. Es finden sich immer wieder irgendwelche Vehikel auf die diese Leute sich draufsetzen und sagen: Da machen wir nicht mit. Wir sperren uns, egal was uns Politiker oder Wissenschaftler oder Medien sagen. 

Wir sehen autoritäre Tendenzen in Staaten wie Ungarn oder Polen. Trotzdem nennt der tschechische Premierminister Babiš Viktor Orbán als seinen Freund. Schadet es nicht Tschechien im Verhältnis zu der Europäischen Union?

Mein Eindruck ist, dass Andrej Babiš immer mit dem befreundet ist, mit dem er zuletzt gesprochen hat. Angela Merkel ist auch seine Freundin. Babiš ist nicht der weltbeste Regierungschef, den man sich vorstellen kann und es gibt viele Aspekte, wo man große Fragezeichen macht. Zum Beispiel seine immer noch nicht geklärte Stasi-Vergangenheit, sein Interessenkonflikt, die Subventionsaffäre um sein Wellness-Resort „Storchennest“. Diese Dinge begleiten mich hier schon seit fünf Jahren, und ich denke, dass dadurch die Gesellschaft auch sehr gespalten ist. Anderseits halte ich Babiš gemessen an Orbán oder Kaczyński eher als minderschweren Fall.  Er hat keine Ideologie, der er folgt. Er kann morgen der Freund von Orbán sein und übermorgen der Freund von Mr. Biden wenn er nach Washington fährt. Das kann man als pragmatisch bezeichnen, wenn man über Babiš etwas Gutes sagen will. Man kann aber auch sagen: Er ist ein hoffnungsloser Opportunist, der immer schaut, woher der Wind gerade weht. 

Und wie verstehen sie die Tatsache, dass er in den Umfragen nach so vielen negativen Nachrichten immer noch so stark ist?

Ich kann da auch nur beschreiben, was ich sehe. Und da gehen die Zahlen der ANO von Babis in dem Maße nach oben, in dem die Bedeutung der Corona-Pandemie für die Menschen in Tschechien abnimmt.  Vielleicht sind die Tschechen da nachsichtiger: Fehler sind ja allen passiert.  Es gibt nur sehr wenige Staaten, die sehr gut durch die Pandemie gekommen sind, unabhängig davon ob es eine rechte, linke oder populistische Regierung ist. Alle Länder haben sich schwer getan. Auch Deutschland ist nicht so gut durchgekommen, wie es von sich geglaubt hat. Wir werden aber sehen: Sollte die Pandemie bis Oktober wieder in den Schwung raten, dann wird Babiš große Schwierigkeiten haben.

Welchen Sinn hat ihrer Meinung nach die Visegrád-Gruppe im Jahr 2021?

Das die kleinen Länder versuchen, ihre Interessen in der EU zu organisieren, das ist per se nichts Schlimmes, das machen die Südstaaten und auch die Skandinavier genauso. Die sitzen immer vorher zusammen und überlegen sich ihre gemeinsamen Positionen.  Die Visegrád-Gruppe hat sich in ihrem Sinn ein bisschen verkehrt. Sie ist gegründet worden, um ihre gemeinsamen Interessen zu formulieren für den Eintritt in die Europäische Union.Jetzt gibt es Tendenzen, sie als Gegengewicht gegen Brüssel zu positionieren.  Ich versuche immer zu vermitteln, dass sie nicht so monolithisch sind, wie sie sich selbst gern darstellen.  Die Gruppe ist sich einig beim Thema Migration, aber zum Beispiel beim Verhältnis zu Russland gibt es sehr große Differenzen. Polen ist da sehr avers, während Orbán Russland eher als Freund betrachtet. Im Verhältnis zu Brüssel sind sie sehr unterschiedlich, man kann es gut sehen wenn man in diesem Fall die Slowakei mit Tschechien vergleicht. Ich denke es gibt insgesamt mehr Punkte, in denen sich die Visegrád-Staaten nicht einig sind.

Viele Jahre waren sie als Chefredakteur des Deutschlandfunks (ex Deutschlandradio) Kultur tätig. So eine Radioanstalt, die Politik mit Kultur verbindet, gibt es in Tschechien nicht. Wenn ich Kultur und Politik im Zusammenhang mit den Medien verbinden sollte, fällt mir auch zum Beispiel der deutsch-französische Kanal ARTE ein. Fehlen hier nicht solche Medien, die die Kraft haben zu bilden und gleichzeitig interessanten Inhalt liefern?

Wenn ich mir den tschechischen Rundfunk anschaue, da gibt es diese klassische Aufteilung in Programme für das aktuelle Zeitgeschehen und Programme für Kultur. Für uns war die Erkenntnis wichtig, dass kulturell interessierte Menschen genauso an Politik und Zeitgeschehen interessiert sind. Aber die Verbindung, nach der sie gefragt haben, hat natürlich viel mit dem Kulturverständnis der Gesellschaft zu tun. Kultur ist nicht nur Theater, Malerei, Literatur und Musik. Sondern Kultur ist eigentlich alles was von Menschen gemacht wird und da gehört auch Gesellschaft, Mode, Essen und auch die politische Kultur dazu. Es hängt davon ab, ob sich genügend Leute finden, die mit diesem breiten Kulturbegriff etwas anfangen können. Dann verträgt er auch ein solches Programm, über das sie gesprochen haben.

Wenn sie die politische Kultur in Deutschland und in Tschechien vergleichen, wo sehen sie die größten Unterschiede?

Die derzeitige tschechische politische Kultur erinnert mich an die politische Kultur in Westdeutschland in den 70er und 80er Jahren, wo die großen Parteien CDU/CSU und SPD noch viel weiter auseinander waren und wo wirklich Grundsatzpositionen zur Entscheidung standen, zum Beispiel der Kampf um die Ostpolitik von Willy Brandt.  Damals ging es im Bundestag ungefähr so hart zu wie im tschechischen Parlament heute.

Wie ist es in ihrem Studio in Prag mit der Themenbestimmung, haben sie Freiheit?

Grundsätzlich ja. Wir bieten zwei Drittel der Themen selber an. EinDrittel sind Anfragen und Wünsche von den ARD-Programmen. Intern reden wir von Angebotsplätzen und Nachfrageplätzen. Zum Beispiel in Paris, London oder Washington muss sich der Korrespondent keine großen Gedanken machen, da ruft morgens die Redaktion an und sagt: Wir wollen wissen, was Trump heute Nacht gesagt hat oder was in Großbritannien gerade los ist. Der Nachteil ist, dass die Kolleginnen und Kollegen dort selten mal rauskommen und selber für sich Themen erschließen können. Hier ist es anders. Die Tagespolitik hat nicht diesen großen Stellenwert, dafür hat man eine große Bandbreite an Möglichkeiten aus Kultur, Wirtschaft, Sport etc.

Wie ist die ARD an den tschechischen Themen allgemein interessiert? Ich frage darum, weil ich das Gefühl habe, das man über Tschechien in Europa nur dann berichtet, wenn es um das Interessenskonflikt von Andrej Babiš oder die Rekordzahlen der Toten durch Corona geht.

Es kann natürlich immer mehr Interesse geben. Tschechien ist der Nachbar von Deutschland mit der längsten Grenze. Zwei Bundesländer sind per se interessiert, Sachsen und Bayern. Deutschland hat 65 öffentlich-rechtliche Radioprogramme, also ins Radioprogramm passt Tschechien ziemlich oft, mit dem Fernsehen ist es schwieriger, weil es insgesamt weniger Sendeplätze gibt. Die Konkurrenz der Fernsehkorrespondenten ist einfach größer. Wenn ich mir meine monatliche Bilanz anschaue, komme ich jeden Monat auf etwas mehr als 30 Beiträge – von der Nachrichtenminute über das Korrespondentengespräch bis zu längeren Reportagen. Was die Vielfalt angeht, glaube ich, dass wir da aus Prag mehr liefern können als umgekehrt mein tschechischer Kollege aus Berlin. Der ist zwangsläufig sehr auf die deutsche Innenpolitik konzentriert. Dass Tschechien kaum in unseren Nachrichten vorkommt, gilt auch für die meisten anderen kleineren Länder in Europa Aber wenn sie nicht in den Nachrichten vorkommen, ist das auch besser so, weil es bedeutet selteN&Nbsp; etwas Gutes.

Ich habe vor ein paar Wochen mit dem deutschen Botschafter in Prag, Dr. Christoph Israng, gesprochen. Wir haben uns intensiv über die wirtschaftlichen deutsch-tschechischen Beziehungen unterhalten. Ich zitiere: „Tschechien ist gar nicht mehr die Werkbank für Deutschland und deutsche Unternehmen. Es ist ein wichtiger Bestandteil in allen Bereichen, gerade auch im Forschungs- und Entwicklungsraum.“ Wie sehen sie als Journalist die ökonomischen Beziehungen?

Ich will natürlich nicht dem Herrn Botschafter widersprechen, aber es ist eine zweitschneidige Sache. Die billige Werkbank ist schon weiter gewandert nach Osteuropa, nach Bulgarien und Rumänien, weil auch die tschechischen Löhne moderat gestiegen sind. Und die Herausforderung für die tschechische Regierung und Wirtschaft besteht darin, etwas Neues und Anspruchsvolleres zu schaffen, als eigenständige Entwicklungt und eigene Wertschöpfung, mehr als das, was von den Konzernen reinkommt und als Gewinn wieder rausgeht. Da ist Tschechien nicht so weit, wie es sein könnte, das bestätigen mir hier auch Leute, mit denen ich oft rede. Tschechien hat immer noch Probleme bei der gewerblichen Ausbildung, hat sehr viele ungelernte Arbeiter mit niedrigen Löhnen.  Und was die wirtschaftliche Entwicklung stark behindern kann, ist der Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften. 

Herr Lange, wer wird nächster Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin und was wird das für die Partnerschaft zwischen Deutschland und Tschechien bedeuten?

Ich kann nur sagen, wer nicht der nächste Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin wird, nämlich Angela Merkel. Das sagt schon etwas aus, weil Merkel hat eine besondere Beziehung zu Tschechien, dadurch, das sie vor 1989 hier mehrmals für mehrere Monate  an der Uni gearbeitet hat. Sie hat persönliche und private Beziehungen zu diesem Land. Sie war während ihrer Kanzlerschaft fünfmal hier zu offiziellen Besuchen. Sie hat versucht, die damals hier Regierenden zu überzeugen bei bestimmten strittigen Themen. Wer immer ihr Nachfolger oder Nachfolgerin wird: Diese enge Beziehung zu Tschechien wird er oder sie nicht haben. Das kann schon dazu führen, dass Tschechien ein wenig in den Windschatten gerät. Es kann aber auch sein, und das hoffe ich, das die Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien so stabil sind, dass es völlig egal ist, wer in Berlin Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin ist.

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