🇨🇿 Tento článek si můžete přečíst i v češtině: Sabine Gruša aneb příběh jedné velké přítelkyně Čechů
Sie haben Tschechien erstmals Ende der 60er Jahre besucht und setzen sich seit mindestens dreißig Jahren für das Land ein, sei es, dass Sie die heimische Literatur in Deutschland publik machen oder hiesige soziale Projekte unterstützen. Was hat Sie für die Tschechen und ihr Land so begeistert?
Ich kam zum ersten Mal im Herbst 1969 mit meinem späteren Mann Joachim Bruss in dieses Land. Er war ein Bohemist, er war begeistert von diesem Land, und er steckte auch mich an. Als ich damals auf der Kleinseite ausstieg und ich das herrliche Ambiente sah, fühlte ich mich keineswegs wie in einem fremden Land, sondern wie in einer der großen Metropolen Europas, die ich kannte, und irgendwo in meinem Innern fühlte ich mich hier wie zu Hause. Ich weiß nicht, wie das passiert ist. Es war einfach so. Dann sah ich all die eingerüsteten Häuser und dieser Anblick machte mich traurig. Ich dachte, dass ich mich als Deutsche eigentlich schämen sollte.
Von Scham haben Sie schon in einem anderen Interview gesprochen, aber ohne nähere Erklärung. Warum haben Sie sie damals empfunden?
Es hat mich betroffen, ich hatte eine hohe Meinung von der Ersten Republik, weil mir bewusst war, wie die Tschechen nach 1918 die Gelegenheit nutzten, ihren eigenen Staat zu gründen, und wie sie damals der Welt zeigten, wer sie sind und was sie vermögen. Und dann fielen hier die Deutschen ein und zerstörten das. Dafür fühlte ich mich verantwortlich, denn diese Zerstörung konnte nicht nur den Kommunisten zugeschrieben werden. Die blühende Republik wurde auch von Nazi-Deutschland zerschlagen, und die Kommunisten haben diese Zerstörung dann vollendet.
Sie haben kürzlich eine Auszeichnung aus den Händen des Außenministers übernommen, unter anderem für die Förderung der tschechischen Kultur in Deutschland. Ihrem zweiten Mann, Jiří Gruša, wurde in der Vergangenheit wiederum für seinen Beitrag zur deutschen Literatur und zu den tschechisch-deutschen Beziehungen eine Auszeichnung zuteil. Es ist nicht zu übersehen, dass sich diese Auszeichnungen gegenseitig ergänzen und dass sie zusammen gehören. Freut Sie das?
Ja, das freut mich. Mein Mann erhielt 2019 posthum vom Außenministerium die In-Memoriam-Medaille für verdienstvolle Diplomatie, und jetzt habe ich eine Auszeichnung vom Außenministerium für mein Engagement im Komitee des guten Willens erhalten. In gewisser Weise hat mich das an meinen Mann erinnert, der auf dem Malvazinky-Friedhof beigesetzt ist. Er ist nicht mehr unter uns, trotzdem hat mich das sehr bewegt, als ob wir für eine Weile wieder zusammen wären.
Der von Ihnen gegründete und geleitete Verein „Deutsche Freunde und Förderer der Olga-Havel-Stiftung“ bringt Persönlichkeiten des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in Deutschland zusammen, die sich für die Tschechische Republik interessieren. Was verbindet Ihrer Meinung nach Tschechen und Deutsche am meisten?
In Tschechien gab es immer viele Menschen, die Deutsch sprachen. Wir haben familiäre und geistige Bindungen und viele tschechische Autoren, die auf Deutsch geschrieben haben. Ich glaube, dass die Kräfte, die uns in der Vergangenheit auseinandergerissen haben, eigentlich nicht natürlich waren. Das mag eine gewagte Theorie sein, aber ich sehe es so, dass wir zusammengehören.
Ihr Verein hat ein Projekt zur Förderung des Studiums von begabten Kindern aus benachteiligten Verhältnissen unterstützt. Könnte sich die Tschechische Republik in Deutschland Anregungen holen, beispielsweise im Bereich der Sozialpolitik?
Es geht um Roma-Kinder, und es ist ihre Situation, auf die ich aufmerksam machen möchte. Jetzt, im Jahr 2023, ist es 90 Jahre her, dass die Nazis in Deutschland die Macht übernommen hatten, die den Roma das Leben schwer gemacht haben, und wir alle wissen, wie das geendet hat. Gerade deshalb würde es sich für uns Deutsche gehören, die Roma zu unterstützen, was ich jetzt mit dem besagten Projekt tue. Zugleich möchte ich in Deutschland sagen: Seht her, da tun wir schon etwas, denn es gibt eine Stiftung, die sich um diese Menschen kümmert. Und wo sind unsere?
Sie inspirieren sich für Deutschland also in Tschechien, sind entgegengesetzt aber eher zurückhaltend?
Ja. Seit Beginn meiner Arbeit in unserem Verein, der wirklich eine Menge Geld gesammelt hat, habe ich darauf geachtet, dass wir die Würde seiner Empfänger respektieren. Ich muss zugeben, dass die Tschechische Republik eine große und bewundernswerte Umwandlung durchgemacht hat. Ich habe auch ein paar Flauten erlebt, verschiedene Tendenzen weg von Europa, aber da ich mit jungen tschechischen Menschen in Kontakt stehe, die mit einer solchen Politik nicht einverstanden sind, bin ich erleichtert, dass die Tschechische Republik nicht verloren ist und dass wir sie unterstützen müssen. Aber jetzt ist alles wieder auf einem besseren Weg, was mich ermutigt und freut, dass ich dies in meinem bevorstehenden 80. Lebensjahr noch erleben darf.
Wie empfinden Sie die aktuellen tschechisch-deutschen Beziehungen? Ist „Tschechien“ überhaupt ein gängiges Thema unter den Deutschen? Wo sehen Sie Reserven in den gegenseitigen Beziehungen?
Da kann man viel tun, auch von deutscher Seite. Zum Beispiel sollten wir darauf hinwirken, dass wir unseren nächsten Nachbarn nicht aus den Augen verlieren. Was mich wirklich erschüttert hat, war die Tatsache, dass der Besuch Ihres Präsidenten in Deutschland von den Medien kaum wahrgenommen wurde.
Wir sind schließlich nur ein kleines Land.
Nein, das hat nichts damit zu tun. Ich habe mich so geschämt! Ich dachte, nein, so kann Deutschland nicht mit einem wichtigen Nachbarn umgehen.
War das ein Fehler der Medien, oder haben die Medien nur der Nachfrage der Zuschauer und Leser entsprochen und andere Themen bevorzugt?
Unsere Medienwelt ist etwas merkwürdig. Da war ein Präsident, der gerade einen schönen neuen Kurs eingeschlagen hat, der sich hingestellt hat und über die Opfer an der Berliner Mauer gesprochen hat, der sich dafür entschuldigt hat, dass er auf der falschen Seite stand, alles tolle Sachen. Dann schaue ich mir die Tagesschau auf ARD an, und da wird NICHTS über diesen Besuch gesagt! Stattdessen reden sie über die Probleme rund um die Kindergärten. Auch in den Zeitungen war nichts zu lesen. Die einzige Ausnahme war die Süddeutsche Zeitung, die Präsident Pavel interviewt hat. Das hat mich wirklich empört – und ich bin immer noch nicht darüber hinweg.
Bleiben wir einen Moment bei der Literatur. Wie schwierig ist es für einen tschechischen Autor, deutsche Leser zu erreichen?
Das ist im Moment gar nicht so schwer. 2019 waren die Tschechen Gastland auf der Leipziger Buchmesse, wo das Interesse der deutschen Verleger an Übersetzungen von Werken tschechischer Autoren geweckt wurde. So wie das Leben mit der Zensur schwierig war, ist es für einen Schriftsteller nicht gerade einfach, sich auf dem freien Markt zu behaupten. Aber viele, wie Radka Denemarková, Jáchym Topol oder Jaroslav Rudiš, werden übersetzt.
SABINE GRUŠA
Sabine Gruša ist die Witwe des Schriftstellers und ehemaligen Botschafters Jiří Gruša, Gründerin und aktivstes Vorstandsmitglied des Vereins, der ein Jahr nach der Gründung des Komitees des Guten Willens – Olga-Havel-Stiftung in der Tschechoslowakei im Mai 1992 in Deutschland in Bonn gegründet wurde. Der Verein bringt Persönlichkeiten des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in Deutschland mit Interesse an der Tschechischen Republik zusammen und organisiert jedes Jahr mehrere Benefizveranstaltungen (literarische Lesungen, Konzerte) mit namhaften Gästen aus dem tschechischen Kulturkreis. Mit den Spenden und Beiträgen seiner Mitglieder finanziert er soziale Projekte, derzeit z.B. die Förderung des Studiums begabter Kinder aus benachteiligten Verhältnissen.
Während der Samtenen Revolution in Prag 1989, als Václav Havel auf die Burg gerufen wurde, gelobte sie, sich für das Wohl und den Wohlstand dieses Landes einzusetzen. Der Verein und Frau Gruša arbeiten aktiv und regelmäßig mit der Botschaft der Tschechischen Republik in Berlin zusammen, um traditionelle Kulturveranstaltungen zu organisieren, zuletzt eine Lesung und Diskussion mit dem ehemaligen Außenminister Markus Meckel und eine Lesung mit Prof. Hans Dieter Zimmermann, dem Mitherausgeber der Buchreihe “Die Tschechische Bibliothek“.
Sind Sie auf Unterschiede im tschechischen und deutschen Humor gestoßen und haben Sie herausgefunden, worin diese bestehen?
Aus tschechischer Sicht spricht man den Deutschen den Humor völlig ab, dagegen sagen die Deutschen oft über die Tschechen, mein Gott, die nehmen wohl gar nichts ernst. Der Humor ist auf beiden Seiten völlig unterschiedlich, und das führt zu Missverständnissen. Auch mein Mann hat sich damit in seinem Buch Česko – návod k použití (Tschechien – Gebrauchsanweisung) beschäftigt, das ich sehr empfehlen kann, falls es noch irgendwo zu bekommen ist.
In seinem Buch „Moje šílené století“ (Mein verrücktes Jahrhundert) erinnert sich Ivan Klíma daran, dass das Publikum bei der Premiere des Schauspiels „Das Schloss“ im Düsseldorfer Schauspielhaus an anderen Stellen lachte als in Prag. Ein deutscher Bühnenschaffender versicherte ihm, dass die Deutschen nur dann lachen, wenn einer dem anderen auf der Bühne in den Hintern tritt. Klíma nahm das nicht ernst, aber zwei Tage später in Bremen bei der Premiere von „Herr Puntilla und sein Knecht Matti“ trat einer den anderen in den Hintern, bis dieser auf die andere Seite des Podiums flog – und das Publikum jubelte. War diese Vereinfachung angemessen oder war es gegenüber den Deutschen doch etwas zu scharf?
Das war sicherlich übertrieben, denn so schlimm ist es wieder nicht – wir haben Kurt Tucholsky und andere verstanden, die sehr kritisch waren und wirklich gnadenlose Satire gemacht haben. Aber manchmal versteht man den tschechischen Witz einfach nicht. Als mein Mann, nachdem ihm die Staatsangehörigkeit entzogen wurde, nach Bremen kam und dort etwas Ironisches erzählte, hat ihn niemand verstanden, alle haben es wortwörtlich genommen. Mit Ironie kommt man in Deutschland nicht an.