🇨🇿 Tento článek si můžete přečíst i v češtině: Naše zlatá budoucnost
Eine vergleichbare Ausgabe der Berliner Monatszeitschrift Cicero ist nie zuvor und eigentlich auch nie wieder danach erschienen. Die Titelseite war komplett mit Goldfarbe überzogen und trug die Zahl 10, und ebenso „glänzend” war auch der Inhalt des Magazins mit einer Fülle international anerkannter Autoren. Der Redaktion ging es mit dieser Paradeausgabe bei weitem nicht nur um die Erinnerung an ein Jahrzehnt ihrer eigenen Existenz. „Zehn gute Grunde, warum Europa eine goldene Zukunft hatt”, lautete der Titel des Haupttextes. Im Mai 2014 jährte sich nämlich auch die historisch größte Erweiterung der Europäischen Union zum zehnten Mal, und die Idee eines vereinten Europas war die Geburtsstunde eines Magazins, das die deutsche Politik und Gesellschaft aus dieser neuen „europäischen” Perspektive interpretieren wollte.
Ich habe zu der Zeit ein journalistisches Volontariat bei Cicero absolviert und konnte so an der Entstehung der Jubiläumsausgabe mitwirken. Ich teilte meine Begeisterung für ein geeintes Europa mit meinen Kollegen, und die Idee, den Beitritt der Tschechischen Republik zur EU auf diese Weise zu feiern, erschien mir großartig. Noch interessanter waren die einzelnen Themen, die dieses „goldene Zeitalter Europas” nach Meinung der Redaktion umrahmen sollten. Ich habe die Ausgabe aufgehoben und kürzlich noch einmal durchgeblättert. Acht Jahre später frage ich mich, ob die damals gepriesenen Positiva immer noch aktuell sind. Und ob diese zehn Gründe für Optimismus angesichts der Realität der russischen Kriegsaggression auch künftighin ausreichen werden.
Die Ostfront
Das Jahr 2014 war auf den ersten Blick nicht gerade ideal für positive Bilanzen. Der Islamische Staat feierte militärische Erfolge in Syrien und im Irak, und Radikale in aller Welt kündigten eine große Auseinandersetzung mit dem verhassten Westen an. Die Welt wurde durch die Nachricht vom Ausbruch der Ebola-Pandemie in Westafrika aufgeschreckt, wobei noch niemand abschätzen konnte, wie schnell selbst ein scheinbar weniger gefährliches Virus die Weltgemeinschaft lahm legen könnte. Und die Europäische Union hatte die Verluste aus der Finanzkrise noch nicht berechnet und musste sich bereits über die wachsende Unterstützung der Nationalisten auf dem ganzen Kontinent Sorgen machen.
Es gab aber auch ermutigende Nachrichten, wie die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und Kuba nach Jahrzehnten oder die Landung einer Raumsonde auf der Oberfläche eines Kometen, die der Menschheit noch nie da gewesene Abdrücke von fernen Welten zeigte. Doch abgesehen von Banalitäten wie der „Eiskübelherausforderung“, wobei sich Menschen mit Eiswasser übergossen, war es schon damals vor allem die Ukraine, die das Internet und die Schlagzeilen der europäischen Zeitungen füllte.
Tausende von Menschen protestierten seit Anfang des Jahres auf dem Maidan-Platz in Kiew gegen die manipulierten Wahlen und die europäische Orientierung ihres Landes. Der Versuch des Regimes, den Aufstand gewaltsam zu beenden, scheiterte zwar, doch nur wenige Wochen später startete unter der Leitung anonymer russischer Soldaten eine Aktion, die mit der Ausrufung der Unabhängigkeit der Halbinsel Krim und der beiden ostukrainischen Republiken endete. Damals, im Frühjahr 2014, begann die russische Aggression in vollem Umfang, deren schlimmste Phase wir jetzt erleben.
In der Redaktion von Cicero waren die Debatten über Europa natürlich von dieser Erfahrung geprägt. Die damals verbreitete deutsche Auffassung, dass eine immer intensivere politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Moskau letztlich zu seiner Demokratisierung führen würde, wurde von den Journalistenkollegen aber keinesfalls geteilt. Dennoch konnten sich nur wenige ein Szenario vorstellen, in dem Russland die Ukraine mit voller Wucht angreifen würde.
Auf jeden Fall spürten wir alle die Symbolik und ein gewisses existenzielles Gewicht der ukrainischen Revolution für Europa. Damals erhoben die Ukrainer europäische Symbole und Farben, die für die meisten “alten Europäer” eher mit dem bürokratischen Apparat aus Brüssel und neuen Radwegen gleichzusetzen waren, zu Werten, für die man kämpfen und vielleicht auch sterben muss. Und sie gaben Europa zu keiner Zeit einen Vorwand, daran zu zweifeln, dass Europa für sie die Verkörperung des ersehnten Ideals von Demokratie und Freiheit ist.
Genau das spiegelte sich auch in den Texten von Cicero wider. Die Redaktion entschied, für jeden der zehn Beiträge einen ausgewählten Intellektuellen aus Deutschland oder dem Ausland anzusprechen. Und der allererste der zehn „Gründe für eine goldene Zukunft” war der Frieden. Janusz Reiter, der ehemalige polnische Botschafter in Berlin, hat sich dieses Themas angenommen und brachte es aus heutiger Sicht genau auf den Punkt.
„Seit dem Ausbruch der Krise in der Ukraine muss uns bereits klar sein, worum es geht. Es geht darum, ob das EU-Friedensprojekt zu einer relativ kurzen Episode in der Geschichte Europas wird. Oder ob die EU den Mut finden wird, Freunde zusammenzuführen und sich von Feinden fern zu halten”, schreibt Reiter und erinnert an das Bewusstsein der polnischen Nation, die in ihrer Geschichte mehr als einmal den Machtgelüsten eines um ein Vielfaches größeren Nachbarn zum Opfer gefallen ist und die sich aufgrund ihrer Lage zwischen Russland und Deutschland auch nach 1989 nicht vorbehaltlos auf den friedlichen Status quo verlassen konnte. „Es geht darum, ob die Union ausreichend Selbstvertrauen hat, um andere zu beeindrucken. Und es geht um ihr Friedenskonzept, zu dem mehr gehört als nur die Abwesenheit von Krieg. Was genau? Der Luxus, seinen Nachbarn vertrauen zu können”.
Benutzerfreundliches Europa
Gerade dieser letzte Satz aus Reiters Text scheint anzudeuten, dass das Vertrauen in die Nachbarn, aber auch das Vertrauen in die gesellschaftlichen Institutionen und die Medien in den nächsten Jahren ein grundlegendes Thema werden wird. Die Ära der Fake News ist sicherlich noch nicht ganz vorbei, aber die Tatsache, dass wir unseren EU-Nachbarn heute vertrauen können und dass wir inzwischen viel geschickter darin geworden sind, die Lügen der anderen zu erkennen, könnte auch heute ein gewisses Maß an Optimismus bedeuten.
Betrachtet man einen weiteren der zehn Texte, lässt sich nur schwer beurteilen, ob die Journalisten heute so unbeschwerte Themen wie “Landschaften” in ihre Auswahl aufnehmen würden. Der deutsche Schriftsteller Wolfgang Büscher feiert die Vielfalt der europäischen Landschaften, in denen sich “hinter jeder Ecke ein neues Bild eröffnet”. Sicher ist jedoch, dass der Autor des einstigen Bestsellers „Berlin-Moskau, eine Reise zu Fuß” selbst die europäische Nachbarschaft wohl anders beschreiben würde.
Aber vielleicht sollte die breitere Perspektive der Texte und ihre gewisse Verspieltheit unbedingt in jede weitere Jubiläumsausgabe des Magazins gehören, die man heute versuchen würde, zusammenzustellen. Neben der „Kultur” hat die „Gastronomie” zweifellos einen Platz in der Zukunft des Kontinents, und neben dem “wirtschaftlichen Wohlstand” ist der Text von Benoit Battistelli, dem Präsidenten des Europäischen Patentamts, der den „Erfindungsreichtum” – die Kreativität und die Innovationsfähigkeit der Europäer – lobt, auf jeden Fall immer noch sinnvoll.
Und was vielleicht trotz der Erfahrung geschlossener Grenzen während der Pandemie gilt, ist die vom ehemaligen Vizepräsidenten der Europäischen Kommission Günther Verheugen beschriebene „Benutzerfreundlichkeit”, sowohl in kleinen Dingen wie Produktanleitungen in allen europäischen Sprachen, als auch in großen Errungenschaften wie Reisefreiheit und Freizügigkeit.
Die vielleicht interessanteste Diskussion in der Redaktion drehte sich jedoch um ein anderes großes und ernstes Thema – das Thema „Demokratie”. Ich habe den tschechischen Journalisten Karel Hvíždala als Autor eines Textes zu diesem Thema vorgeschlagen, und ich denke, dass sein Beitrag einer der besten ist. „…die aggressive Annexion der Krim durch Russland, die der deutschen Annexion des Sudetenlandes im Jahr 1938 sehr ähnlich ist, könnte für die gesamte Europäische Union vielleicht auch eine große Chance sein, sich zu verändern”, schreibt Hvížďala und fügt hinzu, dass die EU in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen viel enger zusammenarbeiten müsse. „Es sind schließlich einige der Grundwerte, die unseren gemeinsamen Kontinent ausmachen: Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit. Das sind Prinzipien der Demokratie. Und Europa hat nur dann einen Sinn, wenn wir um und für diese Werte kämpfen”, schreibt unter anderem Hvížďala. „Es ist ein Kampf um das Sein Europas”.
Der Fürst: Es braucht Regeln
Ich stelle mir vor, wie all diese Texte heute lauten würden, wen wir für sie ansprechen würden, welche Themen unter die Top 10 kommen würden. Aber vielleicht hätte es das Material über die „goldene Zukunft Europas” gar nicht gegeben. Das Magazin Cicero hat sich in den letzten Jahren zu einem sehr viel konservativeren Teil des politischen Spektrums hinentwickelt und damit nahm auch die Kritik an der EU zu. Mein ehemaliger Chefredakteur Christoph Schwennicke arbeitet dort nicht mehr, ebenso wie viele weitere einstige Kollegen.
Dennoch wird zumindest die Frage der „europäischen Werte” in irgendeiner Form in den öffentlichen Diskurs in Tschechien und in Deutschland zurückkehren. Und ebenso die Überlegung, welche dieser Werte dem Kontinent zu einer besseren Zukunft verhelfen werden. Mit der neuen Erfahrung könnten wir leicht Begriffe wie Solidarität oder Hilfsbereitschaft hinzufügen. Die Reaktion auf die russische Aggression war bisher für Europa als Ganzes eher schmeichelhaft.
Aber der wahre Schlüssel liegt vielleicht doch woanders. Wann immer in letzter Zeit die Frage nach gemeinsamen europäischen Werten auftaucht, denke ich an die Worte von Karel Schwarzenberg auf dem Tschechisch-deutschen Diskussionsforum in München vor einigen Jahren. „Wissen Sie, ich mag diese Diskussionen über Werte eigentlich nicht. Jeder von uns hat persönliche Werte, und die wollen wir in diese Diskussionen einbringen”, sagte der Fürst damals. „Ich würde mit Verlaub vorschlagen, zuerst immer über die Regeln zu sprechen, denn sie sind klar und für alle gleich. Wenn wir die Einhaltung der Regeln fordern werden und immer wieder über die Regeln sprechen, werden wir auch zu gemeinsamen Werten gelangen.“
Ich denke, dieser Gedanke lässt sich auch auf die aktuelle Ukraine-Krise anwenden, und vielleicht würde er sogar in einen goldenen Rahmen à la Cicero passen. Wenn Europa nicht aufhört, darüber zu diskutieren, wie man am besten gemeinsame Regeln für die Zusammenarbeit in der Verteidigungs- oder Außenpolitik aufstellt, und auch in der Lage ist, entsprechend zu handeln, wird es sicherlich eine Zukunft haben. Sie wird bestimmt nicht golden und auch nicht problemlos sein, aber auf jeden Fall gemeinsam.