David Mareček: Von der Majestät bin ich immer überwältigt. Der Direktor der Tschechischen Philharmonie blickt auf die Geschichte des Nationalorchesters zurück

Es hat keinen Sinn zu wiederholen, dass letztes Jahr alles anders war. Wichtig ist, dass in der 125. Jubiläumssaison die Tschechische Philharmonie trotz aller Hürden zu hören und zu sehen war, und zwar in der höchsten professionellen sowie technischen Qualität. Die Liebhaber*innen der klassischen Musik mussten auf die wundervollen Auftritte des Nationalorchesters auch deswegen nicht verzichten, weil man dem Generaldirektor David Mareček in Berlin entgegengekommen ist und ihm geholfen hat, ein digitales TV-Studio (Digital Concert Hall) zu errichten.

David Mareček. Foto: Archiv der Tschechischen Philharmonie.

Das erste Konzert der Tschechischen Philharmonie fand unter der Leitung von Antonín Dvořák am 4. Januar 1896 statt. Wovon würden Sie ihm jetzt, am Ende der 125. Saison, mit Stolz berichten? 

Es ist schwer, mit etwas zu prahlen, weil ich nicht nur vor Antonín Dvořák, sondern auch vor weiteren berühmten Persönlichkeiten aus der Geschichte der Philharmonie großen Respekt habe. Wenn ich z. B. die ersten Aufnahmen von Václav Talich auf den Schallplatten der Gesellschaft His Master’s Voice höre, staune ich, wie großartig das Orchester gespielt hat. Für die damalige Zeit völlig unglaublich. In diesem Kontext würde ich meinen Vorgängern gerne das TV-Studio zeigen, das wie im Rudolfinum errichtet haben. Es ist im Jahr 2018 nach dem Vorbild der Berliner Philharmonie entstanden. Unsere Kolleg*innen aus Berlin ließen uns in ihre Digital Concert Hall herein und wir konnten das Ganze kopieren.  

Hatten die Berliner Philharmoniker keine Angst vor der Konkurrenz? 

Dafür gibt es keinen Grund. Die Tschechische Philharmonie wirkt auf einem anderen Markt, wir haben ein anderes Repertoire. Trotzdem bin ich froh, dass sie uns in Berlin entgegengekommen sind. Sie können nämlich am besten von allen den digitalen Inhalt verbreiten. Deshalb waren sie unser einziges Vorbild. Und es ist gelungen. Es gab da sogar eine interessante Geschichte. Es existieren zwei Hersteller von Kameras, die mit einer 4K-Auflösung aufnehmen und übertragen. Es handelt sich um Panasonic und Sony. Beide Systeme sind ungefähr auf gleich hohem Niveau, Sony ist vielleicht ein bisschen nutzerfreundlicher. In Berlin hat man sich schließlich wegen des Preises für Panasonic entschieden. Bei Sony war man deshalb so unglücklich, dass in der Ausschreibung für Prag ein Angebot unter dem Preis eingereicht wurde, damit man einen Auftrag nicht zum zweiten Mal verliert. Für das Rudolfinum war also der Wettbewerb, welcher de facto schon in Berlin angefangen hat, günstig. Das würde ich bestimmt meinen verehrten Kollegen zeigen. 

Denken Sie, sie würden über die Technologie staunen?

Das weiß ich nicht. Aber ich würde ihnen bestimmt erklären, was für eine Freiheit sie der Philharmonie bietet. Wir haben unsere Regisseure, unseren Stab, wir entscheiden selbst über den Ton, wie können selbst Konzerte ohne Zwischenglieder aufnehmen. Vom Anfang bis zum Ende ist es nur unser Produkt. Heutzutage sieht es so aus, dass der Aufbau eines eigenen TV-Studios ein visionärer Gedanke war. Manche denken vielleicht, dass ich weitsichtig bin, aber Fakt ist, dass ich mich um die Errichtung eines Studios schon seit dem Jahr 2011 bemüht habe. Ich fing in der Tschechischen Philharmonie als Generaldirektor an und das Digital Concert Hall war ein Teil meines Konzepts. Damals hat es nicht geklappt, es fehlten die richtigen Bedingungen. Es handelt sich nicht nur aus finanzieller Sicht um ein riesiges Projekt. Als ich mich nach sechs Jahren wieder um den Posten des Generaldirektors beworben habe, habe ich auf diesen Punkt nicht verzichtet. Das Kultusministerium war dann schon einverstanden. Im Jahr 2018 ist die Installation gelungen, im Jahr 2019 gab es einen Probelauf… 

… und im Jahr 2020 kam die Pandemie, auf die Sie so perfekt vorbereitet waren. 

Im März 2020 strahlte die Tschechische Philharmonie als Erste Online-Konzerte aus, was ihr eben das eigene Studio ermöglichte. Die Maßnahmen, welche die Arbeit am Anfang der Pandemie beschränkten, waren nämlich so streng, dass das Tschechische Fernsehen zu uns auch keinen Übertragungswagen schicken könnte. Weil wir das Studio sozusagen zu Hause hatten, konnten wir mit unserem Hauptpartner, dem Tschechischen Fernsehen, vereinbaren, dass wir es mit einer Direktsendung ohne seine Technik versuchen. Seitdem haben wir fast zwanzig solche Konzerte veranstaltet.  

Aufzeichnung des Konzerts. Quelle: Facebook / Tschechische Philharmonie.

Welche drei Kollegen aus der Geschichte würden Sie zum Konzert anlässlich des 125. Jubiläums der Tschechischen Philharmonie einladen? 

Diese Frage kann man nicht so leicht beantworten! Ich erlaube mir, den Dirigenten Jiří Bělohlávek auszuschließen. Der ist zwar vor drei Jahren verstorben, aber es fühlt sich so an, als ob er immer noch hier wäre. Also der würde sowieso zum Konzert kommen. Und jetzt die drei Gäste. Es wären Václav Talich, Karel Ančerl und Rafael Kubelík. Es tut mir leid, dass Sie mir nicht erlaubt haben, noch mehr Personen einzuladen. Ich würde gerne noch Václav Neumann dabeihaben. Er würde das einerseits deshalb verdienen, weil er eine bedeutende Persönlichkeit war, und andererseits wegen vielen ausgezeichneten und hochgeschätzten Aufnahmen. 

Und die drei, die Sie genannt haben? 

Talich ist eine der größten Persönlichkeiten der tschechischen Musik. Musiker*innen wissen das; Menschen, die sich nicht mit Musik befassen, eher weniger. Er war sogar der Konzertmeister in der Berliner Philharmonie, was bedeutet, dass er als Geigenspieler ein unglaublicher Virtuose sein musste. Das, was er dann mit der Tschechischen Philharmonie erreicht hat, war ein Wunder. Bekannt ist eine Geschichte aus dem Jahr 1918, als die Tschechoslowakei entstanden ist. Er probte gerade die Komposition Zrání von Suk für ihre Premiere. Übrigens – sie hatten achtzehn Proben, was heutzutage unvorstellbar ist. Die Norm sind vier bis fünf Proben. Wenn ich mich richtig entsinne, fand die Probe damals im Prager Gemeindehaus statt. Jemand stürzte hinein, schrie, dass die Freiheit gekommen ist, alle Menschen auf den Straßen sind und sie sollen doch auch raus gehen! Talich antwortete damals trocken, er solle nicht stören, es wird geprobt! Die Bedeutung dieses Augenblicks wurde ihm erst später bewusst. Aber eben deshalb ist es ihm gelungen, aus der Tschechischen Philharmonie ein Weltorchester zu machen. Was im Übrigen auf den Aufnahmen zu hören ist, die heute normal erhältlich sind. 

Und Karel Ančerl? Die Philharmoniker lehnten ihn am Anfang ab, nicht wahr? 

Sie haben recht, das Orchester wollte ihn nicht, man hat ihm schreckliche Sachen angetan. Das Problem war, dass ihn die Kommunisten für diesen Posten ausgesucht haben. Dabei war er kein Kader, im Gegenteil – Ančerl war jüdischer Herkunft und musste ins KZ gehen. Er arbeitete hart, benahm sich gut und war ehrlich. Dadurch gewann er schließlich die Musiker*innen für sich. Sein Verdienst ist, dass er die Tschechische Philharmonie der Welt vorstellte. Mit ihm fuhr das Orchester auf die längsten Welt-Tourneen. Ančerl erweiterte auch riesig sein Aufnahmepotenzial. Er nahm nicht nur tschechische Musik auf, sondern auch Werke von ausländischen Autoren. Seine Aufnahmen werden bis heute sehr geschätzt. 

Und dann noch Rafael Kubelík. Wenn ich daran denke, wie er im Jahr 1990 auf dem Altstädter Ring Má vlast (Mein Vaterland) dirigierte, bekomme ich Gänsehaut. 

Eben. Er war ein Bogen vom kommunistischen Totalitarismus zur Freiheit. Kubelík wurde zum künstlerischen Leiter der Tschechischen Philharmonie im Jahr 1942 ernannt. Dank ihm wurde sie zum Staatsorchester, er beteiligte sich auch an der Gründung vom Festival Pražské jaro (Prager Frühling). Wenn nicht die Kommunisten an die Macht kämen, wäre er in der Tschechoslowakei geblieben und die Tschechische Philharmonie würde eine ähnlich große Ära wie mit Talich oder Ančerl erleben. Aber das, was er angefangen hat, war großartig. Und die Rückkehr nach der Samtenen Revolution! Kubelík dirigierte damals aus Gesundheitsgründen nicht mehr, aber wegen der Tschechischen Philharmonie kehrte er zu seinem Beruf zurück. Die letzte Tournee, die er mit ihr absolvierte, war in Japan. In Osaka spielten sie damals Má vlast (Mein Vaterland), dieser Auftritt wurde dann zum Konzert des Jahres ernannt. Die Philharmoniker erinnerten sich daran, wie hart damals Maestro gearbeitet hat. Aus dem Flugzeug ging es schnurstracks zur Probe, keine Erholungszeit, nichts. Rafael Kubelík sagte ihnen mit donnernden Stimme, sie sollen gar nicht daran denken, keine Probe zu haben, obwohl sie Má vlast kennen. Und sie mussten sich auch richtig wie auf einem Konzert anstrengen. So war Rafael Kubelík. 

Wären Sie nervös, wenn im Rudolfinum diese drei Herren erscheinen würden? 

Ich wäre glücklich! Natürlich wäre ich auch nervös, aber das bin ich immer. Nervös war ich auch vor Jiří Bělohlávek, obwohl wir uns nahestanden, so wie jetzt vor Semjon Bytschkow. Wenn wir nämlich an der Spitze der Philharmonie so einen großen Künstler haben, bin ich von der Majestät immer überwältigt, auch wenn wir beste Freunde wären.


Bytschkow: Ohne Zuschauer*innen? Es ist nicht so ungewöhnlich.

Als Zusatz fügen wir noch ein kleines Interview mit dem Chefdirigenten Semjon Bytschkow hinzu.

Was sagt über die Jubiläumssaison der künstlerische Leiter der Tschechischen Philharmonie? „Ich bin stolz auf diese Institution. Das Orchester zeigte eine riesige Anpassungsfähigkeit, manchmal wurden nämlich Dinge auf die Schnelle geändert. Und es sind die Musiker*innen, denen es am besten gelingt, Licht in die Dunkelheit zu bringen“, sagt der Maestro nachdenklich. Die letzte Saison, in der die Tschechische Philharmonie überwiegend ohne Zuschauer*innen im Saal gespielt hat, war ihm zufolge auch in manchen Hinsichten inspirativ. „Gerade in schweren Zeiten kommt das Beste in den Menschen zum Vorschein“, sagt er und kehrt noch zum leeren Saal zurück. „Obwohl wir von allen Seiten gehört haben, dass es schwierig sein muss, ohne Zuschauer*innen zu spielen, muss ich zugeben, dass es für uns nicht so ungewöhnlich ist. Man braucht nur an die vielen Stunden zu denken, die wir mit Proben verbringen, damit wir dann auftreten können. Und wenn wir Aufnahmen machen, sind auch keine Zuschauer*innen da. Ich sehe ja die Zuschauer*innen eigentlich nicht. Ich bin unhöflich, während des ganzen Konzerts sehen sie nur meinen Rücken,“ lacht Maestro Bytschkow, aber wird dann wieder ernst. „Es gibt nichts, was Menschen ersetzten kann, die menschliche Zusammengehörigkeit und Harmonie, welche dann entsteht, wenn Musik geteilt wird. Ich möchte deshalb allen ausrichten: wir werden für Sie immer da sein.“ 

Das ganze Interview mit Maestro Semjon Bytschkow können Sie sich auf dem YouTube-Kanal der Tschechischen Philharmonie anhören.

Hier finden sie den Text in der tschechischen Sprache.

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