Helena Salva: Die Invasion von 1968 hat entschieden, dass ich jetzt ein glücklicher Berliner bin

Für die Studentin Helena begann Ende der 1960er Jahre alles ganz unschuldig und eigentlich ohne ihr Zutun: Ihr Vater suchte in ihrem Auftrag “Brieffreunde”, um ihr Englisch zu verbessern. Im Frühjahr 1968 sah es so aus, als würde sie sich bald in der Welt als nützlich erweisen. Dann kam der August desselben Jahres.

Helena Salva heute. Foto: archiv

Helena Salva stammt aus Prag und lebt seit Mai 1969 in Berlin. Sie war Mitherausgeberin vom jetset travelmagazin, über Berlin und seine Kultur berichtet sie bis heute.

Es hat ganz unschuldig angefangenMein Vater war in Rente, als ihm das erste Mal die deutsche Bravo in die Hände gefallen ist. Hier fand er eine Anzeige, dass junge Leute „penfriends“ aus der ganzen Welt suchen. Vater hat entschieden, es wäre gut, wenn ich die Möglichkeit hätte, mein Englisch zu verbessern, und beantwortete in meinem Namen die Annonce: „Studentin aus Prag sucht Freunde für Korrespondenz, sie interessiert sich für Kultur und Reisen, beherrscht gut Russisch und Englisch und ein wenig Italienisch“. Es war der Frühling 1968 und die ganze Welt wollte wissen, wie die politische Situation in der Tschechoslowakei aussieht. Es war unglaublich. Wir haben an manchen Tagen bis zu 50 Briefe erhalten, unsere Briefträgerin war über die viele Post verärgert. Die meisten Briefe kamen aus arabischen Ländern in französischer Sprache (die wurden aussortiert und an eine Bekannte weitergegeben, die später einen Franzosen geheiratet hat) und auf Deutsch.

Joachim? Zuerst habe ich nein gesagt

Wir haben jeden Abend in der Küche gesessen und die Fotografien in den Briefen durchforstet. Einer der Briefeschreiber hieß Joachim. Ich habe mir sein Foto angesehen, und da er auf dem Bild so ernst wirkte, sagte ich NeiN&Nbsp;und habe es aussortiert. Doch meine Eltern fanden ihn sehr sympathisch und entschiedeN&Nbsp;Ja. So landete Joachim auf dem Schreibtisch meines Vaters zwischen einer Unmenge anderer Briefe. Da ich damals kein Deutsch konnte, hat mein Vater die ganze deutsche Korrespondenz für mich in meinem Namen geführt; ich weiß bis heute nicht, worüber er berichtet hat. Ihm hat dieser ganze Briefwechsel anscheinend viel Spaß gemacht. 

Im Mai schrieb Joachim, dass er einen Freund in Prag besuchen werde. Meine Mutter entschied, dass ich Joachim abholen und zum Mittagessen nach Hause bringen soll. Danach würden sie ihn zusammen mit meinem Vater „übernehmen“. Unser Treffpunkt war vor der Verkaufsgalerie Moser auf dem Altstädter Ring. Neben dem Schaufenster stand ein sehr gut gekleideter Mann mit einem großen Blumenstrauß. Er drehte sich um und öffnete seine Arme. Es war eine Geste voller Emotionen und ich habe mich auf den ersten Blick in ihn verliebt. Ich war nur imstande „Küss’ die Hand“ zu sagen, für mehr haben meine Deutschkenntnisse nicht gereicht. 

Helena und Joachim. Foto: archiv

Joachim war ein wenig überrascht. Nach dem Briefwechsel hatte er angenommen, dass ich perfekt Deutsch sprach, aber wir haben ins Englische gewechselt, und die ganze Welt stand uns offen. Der Prager Frühling duftete nach Flieder und Freiheit und ich war unglaublich glücklich.

Anfang Sommer 1968 erhielt ich von Joachim eine Einladung nach Westberlin, kurz danach auch von meinen Freunden nach Italien. Für die ganze Reise durfte ich offiziell nur 80 DM umtauschen. Ich kann mich bis heute daran erinnern, wie ich an der Grenze Angst hatte, da ich in der Unterwäsche weitere Devisen geschmuggelt habe.

Berlin – Ich mochte es anfangs nicht

Berlin – das war keine Liebe auf den ersten Blick. Breite Straßen und moderne Nachkriegsarchitektur haben mich nicht begeistert. Umso mehr hat mich Ferrara verzaubert, eine Stadt in der italienischen Region Emilia-Romagna, bekannt für ihre Renaissancebauwerke. Als ich eines Abends von einem Stadtbummel zurück ins Hotel kam, waren die Gäste und das Personal sehr aufgeregt. Sie haben gestikuliert und geweint und mir mitgeteilt, dass die Russen die Tschechoslowakei überfallen haben. Meine Freunde wussten nicht, wie sie mich beruhigen sollten. Also entschieden sie sich, mit mir einen Ausflug nach Venedig zu unternehmen. Ich kann mich erinnern, als ob es gestern wäre, wie ich die ganze Fahrt nur geweint habe, nicht mal die Fahrt in einer Gondel konnte mich beruhigen.  

Das war eine bittere Zeit für mich. In dieser Situation wurde wieder mein Vater aktiv. Er schrieb viele Briefe, die er auf dem Wenzelsplatz und dem Altstädter Ring an deutsche Touristen verteilte mit der Bitte, diese in Deutschland in einen Briefkasten zu werfen. Der Empfänger war Joachim. Und tatsächlich, zehn dieser Briefe hat er erhalten, alle mit dem gleichen Text: Bitte setzen Sie sich mit Helena in Verbindung, sie soll nicht zurückkehren. Die Situation hier ist furchtbar.

Joachim hat mich in Ferrara über den Rundfunk suchen lassen, und da viele Hörer vor dem Radio saßen, hat er mich schnell gefunden. Ich kann mich auch an die letzten Worte von Radio Prag erinnern: Wir bitten um Hilfe, die Russen sind hier. Bitte helft uns. Dann wurde die Übertragung abgebrochen.

Von Hippies zurück zu Joachim

Meine Freunde haben mir ein Flugticket nach Westberlin gekauft. Am 25. August 1968 bin ich dann in Berlin-Tempelhof gelandet. Der Taxifahrer, der mich zu Joachim fuhr, hat von ihm kein Geld angenommen, als er hörte, dass ich Tschechin sei. Die Menschen waren fantastisch und unglaublich hilfsbereit.

Helena im Jahr 1985. Foto: archiv

Joachim hat schriftlich bei meinen Eltern um meine Hand angehalten. Wir haben uns verlobt, aber nicht geheiratet, da wir uns noch nicht so gut kannten.

Im Herbst erhielt ich eine Einladung von meiner Schwester, sie in Amerika zu besuchen. Wir haben in Los Gatos gewohnt, ca. eine Stunde mit dem Auto von San Francisco entfernt. Es war die Zeit von Hippies und Flowerpower. Langsam fing ich an, die Zeit dort zu genießen, und meine Schwester schlug vor, zu bleiben. Doch meine Beziehung zu Joachim wurde immer stärker. Wir haben uns lange Briefe geschrieben, und ich entschied mich nach einem halben Jahr, nach Berlin zurück zu kehren. Am 29. August 1969 haben wir geheiratet. Ich war 24 Jahre alt. 

Wir haben die Welt bereist – und darüber geschrieben

Joachim und Helena. Foto: archiv

Joachim war Mitglied im Ring der Tonbandfreunde. Das war eine Vereinigung, die mit Hilfe von Tonbandaufnahmen Menschen aus der ganzen Welt verband. Es wurden Aufnahmen ausgetauscht, über Kultur und Technik debattiert und über Land und Leute berichtet. Zu diesem Verein gehörte auch ein Magazin, in dem Joachim viele Beiträge veröffentlichte, vor allem über unsere Auslandsabenteuer. Für uns gehörten Reisen zu den schönsten Erlebnissen, wir haben fast die ganze Welt gesehen. Auch ich fing an zu schreiben und zu fotografieren und wir entschieden uns eines Tages, ein eigenes Magazin herauszugeben. So entstand das  jetset travelmagazin, das über 20 Jahre lang erschien. Später gehörten wir zu den Ersten, die ihre Beiträge online veröffentlichten. Wir haben auch in verschiedenen Reisemagazinen publiziert. 

Aus Altersgründen haben wir zum 91. Geburtstag meines Mannes unser Magazin definitiv eingestellt. 

Heute bin ich eine überzeugte Berlinerin mit Prager Wurzeln und möchte nirgendwo anders leben. Ich habe einen Kurs über die Erstellung einer eigenen Webseite absolviert, mir eine Domäne gesichert und würde gerne weiterhin fotografieren und berichten, was ich schon ein Leben lang mache – über Ausstellungen, Museen sowie Theater und Spaziergänge durch unsere Metropole. Als realistische Optimistin glaube ich fest, dass meine Pläne bald in Erfüllung gehen werden.

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